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„Sie haben gedroht, mich zu töten“: Nick (15) berichtet von transfeindlicher Gewalt

„Sie haben gedroht, mich zu töten“: Nick (15) berichtet von transfeindlicher Gewalt
Foto: Unsplash/Delia Giandeini

Beleidigungen, Drohungen, Gewalt: In der aktuellen Transgender Awareness Week macht die Community auf Transfeindlichkeit aufmerksam. Auch der 15-jährige Nick hat schon Übergriffe erlebt.


Sicher fühlt sich Nick nicht mehr. Wenn er allein auf den Straßen Berlins unterwegs ist, hat er Angst, wieder angegriffen zu werden. Auch in der Schule gehören Beleidigungen und Diskriminierung zum Alltag des 15-jährigen trans Jungen, der eigentlich anders heißt. Den Vorfall, der sich vor etwa einem Monat in Neukölln abspielte, beschreibt er so: Nick steht alleine vier fremden älteren Jungen gegenüber. Erst lachen sie über ihn und rufen: „Transe*!“ Trotzdem bleibt Nick freundlich und bittet die Jungen zu gehen. Sie bespucken und verfolgen ihn.

Mit dieser Erfahrung ist Nick nicht allein. Zwar gibt es keine konkreten Zahlen. Denn Übergriffe auf transgeschlechtliche Menschen erfasse die Polizei nicht statistisch, sagt Robin Osterkamp von der Landeskoordination des Netzwerks Trans in Niedersachsen (TiN). Doch bei TiN berichteten viele Menschen von verbalen und physischen Übergriffen.

Nur wenige trans Menschen gehen zur Polizei

Laut Osterkamp werde das Thema Gewalt an trans Menschen heute immer sichtbarer. „Trotzdem trauen sich erfahrungsgemäß nur wenige Opfer von physischer und vor allem verbaler Gewalt, mit ihren Erlebnissen zur Polizei zu gehen. Dort besteht die Angst, dass die Vorkommnisse nicht ernst genommen werden oder es zu Transfeindlichkeit durch die Polizei kommt“, so Osterkamp.

Foto: Unsplash/Delia Giandeini

Bei Nick bleibt es nicht bei verbaler Anfeindung. Die Jungen halten ihn fest, wollen sehen, ob er Narben einer geschlechtsangleichenden Operation hat. Sie ziehen sein T-Shirt hoch. Noch immer haben die Angreifer nicht genug. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt und gedroht, mich zu töten, wenn ich den Boden nicht ablecken würde.“ Er fühlt sich hilflos. Erst als eine Passantin die Situation mitbekommt und sich nähert, lassen die vier Jungen von Nick ab. Zur Polizei geht er nicht. Er habe zu große Angst gehabt, dadurch in weiteren Stress zu geraten. Er habe das Gefühl, dass das Leben und die Sicherheit von trans Menschen zu wenig ernst genommen werden, sagt Nick.

Aufklärungsarbeit in der Schule

Nicks Gefühle seien bei Betroffenen nicht selten, sagt Osterkamp. Transgeschlechtliche Menschen seien schon vor ihrem Coming out großem Stress ausgesetzt, da sie oftmals transfeindliche Übergriffe regelrecht erwarteten. „Wenn diese Übergriffe passieren, steigt der Stress entsprechend natürlich, da die Erwartungshaltung bestätigt wurde“, sagt Osterkamp.

Daher seien Aufklärungs- und Antidiskriminierungsprojekte so wichtig. Schwierig sei vor allem, die Menschen zu erreichen, die denken, das Thema ginge sie nichts an. Ein gutes Angebot sei zum Beispiel SCHLAU, ein Bildungsprojekt zu geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen, zu dem ehrenamtliche Workshops für Schulen und andere Einrichtungen gehören. Aber auch bei regionalen Transberatungsstellen oder Netzwerken können Fortbildungen, Infomaterial und Empfehlungen zum Thema angefragt werden.

Für cis Menschen** wie die Passantin in Nicks Fall, die verbale oder physische Angriffe beobachten, hat Osterkamp einen Tipp: „Seid bei Gewalterfahrungen für die betroffene Person da, ohne euch selbst in Gefahr zu bringen, und zeigt der angreifenden Person, dass ihre diskriminierende Haltung nicht toleriert wird. Egal, ob diese absichtlich oder aus Unwissenheit passiert.“

Transgender Day of Remembrance: Hunderte Tote im Jahr

Neben der Aufklärungsarbeit gibt es in der Community ein weiteres Mittel, um auf Gewalt aufmerksam zu machen: Gedenktage wie den Transgender Day of Remembrance (TDOR, zu Deutsch: Gedenktag für die Opfer von Transfeindlichkeit). Während es Tage des Stolzes, etwa während des Pride Months***, gibt, dürfe auch nicht vergessen werden, dass jährlich mehrere Hunderte Menschen lediglich aufgrund ihres Transseins getötet oder in den Suizid getrieben werden, sagt Robin Osterkamp von der Landeskoordination des Netzwerks Trans* in Niedersachsen.

Das soll der TDOR jedes Jahr am 20. November sichtbar machen. An diesem Tag gibt es in verschiedenen Ländern Aktionen. Typischerweise werden die Namen der im vergangenen Jahr getöteten Personen vorgelesen. Im Zeitraum von Oktober 2019 bis September 2020 gab es weltweit 350 Morde an transgeschlechtlichen und gendernonkonformen**** Menschen, wie der Verein Transgender European e. V. mitteilt. „Dieser Tag ist einerseits ein Tag, an dem trans Personen zusammenkommen können, um gemeinsam zu trauern, aber auch ein Tag, an dem wir unserer Wut über das System, das uns tötet, Ausdruck verleihen können“, sagt Osterkamp.

Mittlerweile ist der TDOR der Höhepunkt der Transgender Awareness Week. Sie soll die Sichtbarkeit von trans Menschen erhöhen und auf verschiedene Probleme aufmerksam machen, mit der die Community konfrontiert wird. Der Transgender Day of Remembrance selbst ist 1999 von der trans Aktivistin und Autorin Gwendolyn Ann Smith ins Leben gerufen worden. Grund dafür war der – bis heute ungeklärte – Mord an der trans Frau Rita Hester.

Von cis bis Pride: Glossar zum Text

*„Transe“ ist ein abwertender Begriff, der sich von der Bezeichnung Transvestit ableitet. Diese war zwar früher für transgeschlechtliche Menschen üblich, wird heute aber häufig in einem beleidigenden Kontext verwendet und von den meisten trans Menschen abgelehnt.

**Cis Menschen sind Personen, die sich mit ihrem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht klar identifizieren. Cis ist das Gegenteil von trans.

***Den Pride Month feiert die LGBTIQ-Community (lesbisch, schwul/gay, bisexuell, trans, inter und queer) jedes Jahr im Juni und demonstriert damit für mehr Toleranz. In Deutschland finden entsprechende Demonstrationen unter dem Namen Christopher Street Day von Juni bis August statt.

****Gendernonkonforme Menschen wollen sich nicht der Rolle eines Geschlechts, die ihnen die Gesellschaft zuordnet, anpassen. Gendernonkonforme Menschen können trans sein oder auch nicht-binär – Letztere identifizieren sich nicht mit dem binären Geschlechtersystem (männlich und weiblich) und sehen sich als ungeschlechtlich oder mehrgeschlechtlich.

Von Tom Schwichtenberg


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