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Studie zu Polizeigewalt: Betroffene verzichten fast immer auf Anzeige

Studie zu Polizeigewalt: Betroffene verzichten fast immer auf Anzeige
Foto: imago

Erstmals hat ein Forscher*innen-Team Polizeigewalt in Deutschland mit einer Studie systematisch erfasst. Mit alarmierenden Ergebnissen.


Prügelnde Polizisten bei den G20-Protesten im Juli 2017, misshandelte Flüchtlinge in einer Polizeidirektion oder zuletzt friedlich Klima-Demonstranten, die offenbar mithilfe von Schmerzgriffen weggetragen wurden – Polizeigewalt wird in Deutschland häufig diskutiert. Wie viel davon aber tatsächlich rechtswidrig ist, ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Denn die wenigsten Vorfälle werden auch angezeigt. Das haben jetzt Forscher*innen der Ruhr-Uni Bochum herausgefunden.

Wissenschaftler*innen erforschen Polizeigewalt

Denn die Gruppe um den Kriminologen Tobias Singelnstein hat die bislang größte Studie zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland erstellt. Fertig ist sie noch nicht – bis 2020 werden noch etwa 60 Interviews mit Expert*innen etwa aus der Justiz oder Polizei geführt – aber es gibt einen Zwischenbericht. Und der besagt, dass Polizisten in Deutschland offenbar viel häufiger ungerechtfertigte Gewalt ausüben als bekannt, denn die wenigsten Delikte werden angezeigt.

Dafür werteten die Forscher*innen fast 3.400 Fragebögen von Betroffenen aus und fanden außerdem heraus: Auf kaum ein Delikt folgte ein Strafverfahren (86 Prozent), die meisten Vorfälle fanden bei Demonstrationen statt (55 Prozent) und fast immer wurden die männlichen, jungen und gebildeten Betroffen (72 Prozent) mit körperlicher Gewalt konfrontiert (71 Prozent).

Studie: 86 Prozent verzichten auf Anzeige

In den meisten Fällen kam es schnell zur Gewalt: Vom ersten Kontakt bis zur Gewaltausübung dauerte es laut 54 Prozent der Befragten weniger als zwei Minuten. Jeder Fünfte gab sogar an, schwere Verletzungen wie Knochenbrüche erlitten zu haben. Vier Prozent leiden auch heute noch unter den Folgen.

Laut der Berichte hätten die Betroffenen vor allem deswegen von einer Anzeige abgesehen, weil sie davon ausgingen, dass die für die Polizisten keine Folgen hätten. Eine Überzeugung, die einige Polizisten selbst in einer anonymen Umfrage von 2013 teilten: 18 Prozent gaben an, sie hätten keine Anzeige erstattet, weil sie davon ausgingen, das Verfahren wäre ohnehin eingestellt worden. Auch die Angst vor einer Gegenanklage spielte eine Rolle.

Die Statistik – etwa von den G20-Protesten – gibt ihnen recht: Gegen keinen einzigen Polizisten wurde bislang Anklage erhoben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einige Polizisten konnten im Nachhinein nicht mehr namentlich identifiziert werden, andere haben erst gar keine Anzeige erstellt, wie Zeit Online berichtet. Der Leiter der Studie, Tobias Singelnstein, verweist auf die Strafverfolgungsstatistik von 2018. Die Anklagequote betrug darin in Fällen mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt zwei Prozent, die Einstellungsquote 98 Prozent.

Nicht repräsentative Studie

Repräsentativ ist die Studie allerdings nicht und das liegt vor allem an der Rekrutierungsstrategie: Die Teilnehmer wurden entweder durch Werbeaktionen auf die Studie aufmerksam oder aus speziellen Bereichen (Fußballfans, marginalisierte Gruppen, politischer Aktivismus) zusammengestellt. Ein Grund dafür war, dass auf diesem Weg auch die Perspektive von Menschen, die nicht registriert sind, in der Studie repräsentiert wird.

Ohne Weiteres lassen sich die Zwischenergebnisse der Studie also nicht verallgemeinern. „Allerdings lassen sich aus den Befunden durchaus Schlussfolgerungen für die Gesamtsituation ziehen“, heißt es in dem Zwischenbericht. Etwa die, dass das Dunkelfeld im Bereich rechtswidriger Gewaltausübung durch Polizeibeamt*innen mindestens fünfmal so groß ist wie das Hellfeld. Die hohe Teilnehmerzahl spricht weiter dafür, dass das Thema Polizeigewalt eine hohe Relevanz für viele Menschen hat.

Kritik von der Polizei bestätigt Ergebnis

Von Seiten der Polizei wird die Studie stark kritisiert: Polizeigewerkschafter Rainer Wendt sprach etwa gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von „haltlosen Behauptungen“, deren Ziel es sei, die „Arbeit hunderttausender Polizistinnen und Polizisten in Misskredit“ zu bringen.

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, sagt: „Wir brauchen hierzulande keine Kontrollinstanz für unseren Rechtsstaat“. Er selbst sei Vertreter des Rechtsstaates und glaube fest an dieses System.

Statt die Erkenntnissen der Studie als Anlass zu nehmen, sich ernsthaft mit dem Thema rechtswidriger Polizeigewalt auseinanderzusetzen, sieht sich die Polizei selbst als Opfer, diskreditiert die Studie und rechtfertigt sich mit „Glauben“ statt Transparenz.

Das ist unprofessionell und fahrlässig und wirkt in etwa so überzeugend, wie der Klassenkasper, der schon „War ich nicht“ ruft, bevor die Lehrperson überhaupt sieht, dass etwas passiert ist. Denn auch, wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, ist das Thema offensichtlich sehr relevant für Menschen in Deutschland. Und die Unangreifbarkeit, die die Polizei mit ihrer Reaktion suggeriert, bestätigt letztlich nur die Ergebnisse der Studie: Kritik an der Polizei hat keinen Zweck, weil erfolglos.

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Über den Autor/die Autorin:

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