Pflegenotstand: „Die Zustände in der Pflege sind menschenunwürdig“
Besonders seit dem Ausbruch des Corona-Virus ist die Debatte über den Pflegenotstand wieder im Gange. Obwohl Leonie (23) ihren Job als Pflegehelferin in der Psychiatrie liebt, wird sie ihn bald hinter sich lassen. Unserem Jugendportal MADS erzählt sie, warum das so ist.
30 Bewohner, ein Pfleger und eine 18-Jährige ohne Vorkenntnisse – so startete Leonies Freiwilliges Soziales Jahr in der Psychiatrie. „Ich sollte einem Mann als Erstes einen Pütter-Verband anlegen“, erzählt Leonie, die eigentlich anders heißt. Bei dieser Art der Kompressionstherapie wird ein enger Verband angelegt, der das Abschwellen von Ödemen in den Beinen fördern soll. Vorher hatte Leonie noch nie so etwas gemacht. Sie hatte auch noch nie einen fremden Menschen gewaschen oder ihm den Hintern nach dem Toilettengang gesäubert. Die Anweisung des Pflegers: „Mach es einfach so, wie du dir wünschen würdest, dass man es für dich tun würde.“ Eine Vorgabe, die für Leonie zum Grundsatz der Pflege wurde – doch einhalten konnte sie ihn nicht im-
mer. Und das bedauert die heute 23-Jährige.
Pflegehelferin: Distanz zu den Patienten
Mittlerweile arbeitet Leonie als studentische Aushilfe im offenen Heimbereich der Psychiatrie. Wenn sie über ihre Arbeit spricht, verändert sich etwas im Gesicht der Pflegehelferin. Ihr Blick wird ernster, die Ausstrahlung entschlossener. „Gleich am ersten Tag, den ich in der Psychiatrie gearbeitet habe, wurde mir eingebläut, ein gesundes Nähe-Distanz-Verhältnis zu den Bewohnern zu wahren“, erzählt Leonie und klingt dabei ein wenig höhnisch. „Aber das ist nicht möglich.“ Zwar könne sie verstehen, dass es der eigenen Psyche nicht immer guttäte, Probleme der Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Doch letztlich sei es unmöglich, keine intensive emotionale Verbindung zu den Patienten aufzubauen. „Die Bewohner sind mir völlig ausgeliefert, völlig entblößt – im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt die Studentin. „Ich sehe sie nackt, kenne den Inhalt ihrer Schränke, verbringe manchmal elf Tage am Stück mit ihnen – näher kommt ihnen niemand.“
„Die Bewohner sind mir völlig ausgeliefert, völlig entblößt – im wahrsten Sinne des Wortes“
Leonie (23), studentische Aushilfe
Die Corona-Krise hat die Debatte über den Pflegenotstand erneut entfacht. „Bereits heute fehlen in allen Pflegeberufen Fachkräfte“, heißt es auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums. „Amtliche Angaben zur Zahl aller nicht besetzten Stellen in den Pflegeberufen liegen allerdings nicht vor.“ Indizien gebe es aber dennoch, so bewerben sich auf 100 gemeldete Stellen im Bereich der Altenpflege lediglich 29 Arbeitslose. „In solchen Diskussionen über den Pflegenotstand geraten die Psychiatrien aber häufig aus dem Blick“, sagt Leonie. „Dass wir darunter aber genauso leiden, zeigt sich schon darin, welche Aufgaben ich als FSJlerin übernehmen musste.“
Stress, Fäkalien und Pöbeleien
Nach dem Abitur wollte Leonie erst einmal Zeit überbrücken und herausfinden, was sie wirklich interessiert. Eine ihrer Interessen: Psychologie. Also schrieb sie die nahe gelegene Psychiatrie an und fragte, ob sie FSJ-Stellen anböten. Eine Woche später legte sie ihren ersten Pütter-Verband an und weinte eine halbe Stunde durch, nachdem sie endlich Feierabend hatte. „Die Situation war völlig überfordernd, das alles war mir fremd und ich hatte natürlich auch noch Berührungsängste“, sagt die Studentin. Doch mit der Zeit lernte sie die abwechslungsreichen Arbeitstage, das Rumalbern mit den Patienten und ihre Kollegen lieben – trotz des Stresses, der Fäkalien, Pöbeleien und Ausraster.
„Vergessen darf man nicht, dass die Menschen, mit denen ich da arbeite, eben sehr krank sind, auch wenn man ihnen das nicht immer ansieht“, erklärt Leonie. Gewaltausbrüche, Verzweiflung und Wut sind bei vielen Patienten eben Ausdruck ihrer psychischen Erkrankung. Schizophrenie, Suchterkrankungen oder auch starke Demenz: Schicksalsschläge oder organisches Versagen brachte eine Vielzahl der Bewohner in die Einrichtung. „Zu sehen, was man selbst bei den Bewohnern bewirken kann, wie man ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubert, das macht die Arbeit so besonders“, sagt Leonie. Die Studentin nennt die Bewohner Schützlinge. Doch vor Langeweile und Vereinsamung kann Leonie die Bewohner nicht immer schützen.
Es geht nur ums Überleben: Die Folgen des Pflegenotstands
„Bei der derzeitigen schlechten Besetzung konzentrieren wir uns noch auf die Grundbedürfnisse – da geht es fast nur noch um das Sichern des Überlebens“, erzählt die Pflegehelferin. „Wenn ich 30 Bewohner habe, die ich alleine waschen und mit Essen versorgen muss, dazu noch der Papierkram – da bleibt keine Zeit für eine kurze Runde ‚Mensch ärger-Dich nicht‘.“ Für Leonie ist das neben der schlechten Bezahlung der Grund dafür, dass sie ihre berufliche Zukunft nicht in der Pflege sieht. „Solange die Wirtschaft in diesem System an erster Stelle steht und erst danach die Gesundheit kommt, läuft einfach etwas falsch“, sagt Leonie entschieden. „Es heißt, die Menschenwürde sei unantastbar, aber die Zustände in der Pflege sind auf so vielen Ebenen menschenunwürdig – für Pfleger und Bewohner.“
Dass das Ganze auch anders funktioniere, sehe Leonie in anderen Ländern – so etwa in Schweden. Dort sind, gemessen am Bruttosozialprodukt, die Ausgaben für die öffentliche Pflege etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. „Wir vergessen einfach, dass jeder von uns mal auf Pflege angewiesen sein kann“, sagt Leonie. „Und das gilt eben nicht nur für die Pflege im Alter, sondern auch für die Pflege aufgrund psychischer Erkrankungen. Nur verschließen viele bei diesem Thema die Augen.“
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Ich frage mich ernsthaft, wie man als Journalist den Subheader „Stress, Fäkalien und Pöbeleien“ über einen Textabschnitt setzen kann, in dem es darum geht, warum die Protagonistin ihren Job trotz allem gern macht. Auf diese Weise werden sämtliche Klischees über den Pflegeberuf weiter zementiert, was sicher nicht zur Lösung der Situation beiträgt.