Mehr als nur Schullektüre: Diese Klassiker lohnen sich
Bücher aus dem Deutschunterricht haben nicht unbedingt den besten Ruf. Zu unverständlich, zu verstaubt, von Lehrkräften madig gemacht – und am Ende hat die Hälfte der Klasse sie ohnehin nicht gelesen. Wir stellen euch einige Klassiker vor, die sich wirklich lohnen.
Max Frisch: „Biedermann und die Brandstifter“ (1958)
Dramen haben unter Schülerinnen und Schülern innerhalb der ohnehin langweiligen Schullektüre einen Sonderstatus: Theaterstücke sind schließlich besonders kompliziert, und am Ende erwartet die Lehrkraft noch Vorlesen in verteilten Rollen. Wenn man sich allerdings einmal vor Augen führt, dass diese Texte nicht zum Lesen, sondern zum Gucken gedacht sind und somit tatsächlich gesprochen am Besten funktionieren, sind Dramen auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht sogar ganz lustig.
„Biedermann und die Brandstifter“ ist ein solches lustiges Stück. Es spielt in einer nicht näher spezifizierten Stadt, die derzeit von Brandstiftern heimgesucht wird. Obwohl er von der Gefahr weiß, nimmt der naive Gottlieb Biedermann zwei Fremde bei sich auf. Diese versuchen nicht einmal wirklich, ihre Absichten zu verstecken, doch Biedermann bleibt ahnungslos. Die Skurrilität ihrer Interaktionen wird in dem „Lehrstück ohne Lehre“, wie der Untertitel es nennt, immer mehr auf die Spitze getrieben.
Max Frischs Stück nimmt Bezug auf viele Aspekte der Literatur: Wie in einem klassischen Drama tritt ein Chor auf, der in „Biedermann und die Brandstifter“ passend aus den warnenden Feuerwehrleuten besteht. Außerdem wird Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ direkt parodiert, der Name des spießigen Protagonisten hat durch die Referenz außerdem gleich eine doppelte Bedeutung. So wird das Drama zur Persiflage seiner eigenen Gattung. Da Max Frisch im 20. Jahrhundert lebte, sind seine Texte außerdem leicht verständlich – neben „Biedermann und die Brandstifter“ lohnt sich besonders der Roman „Homo Faber“.
Von Annika Eichstädt
Heinrich von Kleist: „Das Erdbeben in Chili“ (1807)
In Heinrich von Kleists „Das Erdbeben in Chili“ fühlen Leserinnen und Leser mit den beiden Protagonisten mit. Die Novelle spielt in der chilenischen Hauptstadt St. Jago im Jahr 1647. Im Zentrum steht ein Liebespaar. Jeronimo und Josepha haben unerlaubt ein Kind gezeugt, weshalb Josepha hingerichtet werden soll. Während sie zum Richtplatz geht, bricht ein Erdbeben über die Stadt herein. Was für unzählige Menschen eine Katastrophe ist und Elend und Tod bringt, ist für Josephe und Jeronimo die Rettung. Sie treffen sich tatsächlich – vereint mit ihrem Kind – wieder.
Das Leid der einen ist das Glück der anderen. Mit diesem Kontrast und sprachlicher Komplexität – typisch Kleist gibt es eine Menge Schachtelsätze – arbeitet der Autor in der gesamten Novelle. Nach der scheinbar idyllischen Fügung tritt eine erneute Wendung ein: Unerwartete Ereignisse ziehen sich durch die gesamte Handlung. So liegen Gefahr und Rettung, Dankbarkeit und Verzweiflung, Leben und Tod immer nah beieinander. Kleist schafft es dadurch, Spannung zu erzeugen. Die Handlung fesselt bis zur letzten Zeile.
Von Sonja Scheller
Charlotte Perkins Gilman: „Herland“ (1915)
Feminismus vor 100 Jahren: Wer sich für Gender Studies interessiert, sollte diesen Geheimtipp lesen. Das Leben der US-amerikanischen Autorin Charlotte Perkins Gilman allein könnte schon einen Roman füllen. Sie war Tochter einer alleinerziehenden Mutter, hat sich und ihre Familie allein durch eigene Gemälde finanziert. Später verließ sie ihren ersten Ehemann, weil sie ohne ihn glücklicher war und sich auf ihre Karriere als Autorin konzentrieren wollte. Sie hielt Vorträge über die Rechte der Frauen, veröffentlichte mehrere Texte, war Aktivistin und litt ihr ganzes Leben an wiederkehrenden Depressionen.
„Herland“ ist ein Roman über eine utopische Gesellschaft, in der nur Frauen leben. Der Roman beginnt, wie andere klassische Abenteuerromane à la Jules Verne, mit drei Männern, die mit ihrem Flugzeug im Dschungel bruchlanden. Dort finden sie die perfekt funktionierende Gesellschaft der Frauen von Herland (inklusive asexueller Reproduktion) und verlernen langsam ihre (für damalige Verhältnisse) toxisch patriarchalen Denkweisen.
Die Ideen im Roman waren damals radikal. Heutzutage gibt es natürlich viele Punkte, die veraltet oder überholt sind, dennoch ist gerade der Aspekt der wechselnden beziehungsweise fehlenden Genderrollen auch jetzt noch sehr modern. Zusätzlich ist der Roman gut geschrieben, und Herland wird sehr detailliert und faszinierend dargestellt.
Von Tabea Rabe
Friedrich Schiller: „Kabale und Liebe“ (1784)
„Kabale und Liebe“ ist wohl ebenso bekannt wie Autor Friedrich Schiller selbst. Das Drama erzählt die Geschichte der bürgerlichen Louise und des adeligen Ferdinand. Neben der Ständeungleichheit und persönlichen Differenzen der beiden führen auch Intrigen Dritter zum tragischen Ende. Was das Stück auch fast 250 Jahre später interessant macht, ist dass das Thema dramatischer Liebe nach wie vor relevant ist. Im Grunde ist „Kabale und Liebe“ nichts anderes als eine frühere Soap-Opera.
Hinzu kommt die Literaturströmung des Sturm und Drang: Diese jungen Autoren waren flapsig gesagt die Punks des 18. Jahrhunderts. Es ging ihnen um das Auflehnen gegen Traditionen. Die Aufklärung, aber auch das emotionale Widersprechen standen im Vordergrund, rein adeliges Schreiben wurde abgelehnt. So ist die Sprache weniger gestochen, für ihre Zeit sogar bissig, es wird Jugendsprache genutzt, Scherze gehen auch mal unter die Gürtellinie. Inhaltlich wurden Tabuthemen behandelt wie Suizid (Goethe: „Die Leiden des jungen Werther“), Kindsmord (Wagner: „Die Kindermörderin“) und Selbstkastration (Lenz: „Der Hofmeister“). Den Autoren der Zeit vorzuwerfen, verstockt zu sein, wäre also Quatsch.
Von Annika Eichstädt
Mary Shelley: „Frankenstein“ (1818)
Der Wissenschaftler Victor Frankenstein erschafft aus toten menschlichen Körperteilen und mithilfe von Elektrizität neues Leben. Als die Kreatur erwacht, ist Frankenstein von Stolz und Angst überwältigt. Sein Geschöpf reagiert unkontrolliert wütend. Unverstanden flieht es und beginnt, geliebte Menschen seines Erschaffers zu töten. Auf seiner Reise zurück zu Frankenstein lernt die Kreatur jedoch Leben und Menschen kennen und versucht, sich selbstständig zu sozialisieren.
Interessant an dem Roman, der als Startpunkt der Science-Fiction-Literatur gilt, sind die Entwicklungen der Figuren. Victor Frankenstein erfährt als Mensch ebenso wie das von ihm geschaffene Wesen Veränderung. In „Frankenstein“ geht es um innere Werte, um das Verstoßenwerden, um Akzeptanz und ums Alleinsein. Außerdem werden psychische Probleme und Schuldkomplexe behandelt. Obwohl der Thriller aus dem 19. Jahrhundert stammt, behandelt er also Themen, die nach wie vor relevant sind. Mary Shelley gestaltet die Geschichte außerdem interessant, indem sie sie in drei verschiedene Erzählperspektiven aufteilt. Diese machen es möglich, die Situation umfassend zu analysieren und sich in die Figuren hineinzuversetzen. Spannend ist auch der Einstieg über Briefe – was es damit auf sich hat, löst sich erst am Schluss auf.
Von Haley Tschammer
Patrick Süskind: „Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders“ (1985)
Diesen Roman sollten sich Krimi-, Geschichts- und Fantasy-Fans noch mal genauer anschauen. Die Geschichte um Jean-Baptiste Grenouille und seine perfekte Nase ist nicht so staubig, wie ihr Einband glauben lässt. Hier geht es um Psychologie, Mord und die Suche nach Identität. Die nicht neurotypische Figur Grenouille macht den Roman zu einer interessanten Leseerfahrung – wie häufig liest man schon aus der Perspektive des Mörders und folgt ihm Schritt für Schritt durch seine Taten?
Die Handlung hat zudem einen guten Spannungsbogen, sodass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen will. Es ist am Ende überhaupt nicht absehbar, wie der Roman ausgeht. Auch sehr spannend ist das detaillierte und kreativ beschriebene Frankreich des 18. Jahrhunderts. Wer sich für Geschichte begeistern kann, der wird dieses Buch lieben. Fans des Gritty Realism (also düstere Welten wie aus „Game of Thrones“) dürfen sich hier auf eine schmutzige, harte Gesellschaft freuen, die keinem etwas schenkt. Und auch die Verfilmung aus dem Jahr 2006 lohnt sich.
Von Tabea Rabe
Juli Zeh: „Corpus Delicti“ (2009)
„Corpus Delicti“ erzählt von einer Gesundheitsdiktatur. Die dort lebenden Menschen werden von der Regierung – auch Methode genannt – streng überwacht. Umweltverschmutzung, Zigarettenrauchen oder Autofahren gibt es nicht mehr: Verstöße werden stark bestraft. Die junge Biologin Mia Holl fängt nach dem Tod ihres geliebten Bruders an, gegen die Methode zu rebellieren und steht somit kurz vor einer Festnahme.
Der Roman spielt Mitte des 21. Jahrhunderts und will damit verdeutlichen, wie unsere Zukunft aussehen könnte, wenn die falschen Menschen an die Macht kommen. „Corpus Delicti“ zeigt eine Zukunft ohne Freiheit – neben der Überwachung werden den Menschen mithilfe von eingepflanzten Mikrochips sogar in der Liebe Grenzen gesetzt. Juli Zeh, selbst Juristin, schildert Mias Prozess so, dass man beim Lesen eifrig mitfiebert.
Von Haley Tschammer
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