Ist das deutsche Schulsystem unsozial? Ein Bildungsforscher im Interview
Bietet das deutsche Schulsystem wirklich gleiche Chancen für jeden? Nein, sagt Bildungsforscher Klaus Klemm im Interview mit MADS-Autorin Anna-Maria. Woran liegt das?
Herr Klemm, wie gerecht ist das deutsche Schulsystem?
Es ist durch zahlreiche nationale und internationale Studien bekannt, dass sowohl Kinder und Jugendliche aus finanziell schwachen Familien als auch mit Migrationshintergrund deutlich geringere schulische Erfolge haben. Ein Grund dafür ist, dass Kinder aus finanziell stärkeren Familien mit Akademikereltern viel weniger auf das angewiesen sind, was die Schule bietet, weil die Familien eigene Ressourcen bieten können. Ich meine damit: Sie können ihren Kindern helfen und sie unterstützen. Im Gegensatz dazu sind Kinder aus finanziell schwächeren Familien und erst recht Kinder mit Migrationshintergrund sehr auf die Angebote der Schule angewiesen. Für viele dieser Kinder besteht dieses unterstützende Umfeld nicht, die Schule ist somit der einzige Ort für sie zum Lernen. In der Corona-Zeit hat sich das nochmals verstärkt.
Gibt es einen wissenschaftlichen Hintergrund dafür, warum Deutschland als fast einziges europäisches Land, Kinder bereits nach der vierten Klasse auf drei Schulzweige wie Gymnasien, IGS/Realschulen und Hauptschulen separiert?
Nein, für diese Aufteilung gibt es keine wissenschaftliche Begründung. Sie ist im deutschsprachigen Raum historisch gewachsen. Bis 1918 erfolgte die Aufteilung auf unterschiedlich anspruchsvolle Bildungswege bereits vor Beginn der Grundschule. Erst in der Verfassung der Weimarer Republik wurde der gemeinsame Schulbesuch der ersten schulpflichtigen Jahre der Kinder festgeschrieben.
Klaus Klemm ist Erziehungswissenschaftler und pensionierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung. Er war Mitglied mehrerer Sachverständigenkommissionen rund um das Thema Bildung.
Wie würden Sie hinsichtlich der Chancengleichheit das Schulsystem ändern? Hätte Sie Ideen, um das Schulsystem zu reformieren?
Damit mehr Chancengleichheit im deutschen Schulsystem gewährleistet wird, müsste Ungleiches ungleich behandelt werden. Damit meine ich, dass Schulen in finanziell schwachen Regionen mehr Ressourcen brauchen als andere. Das vielfach gegliederte Schulwesen, welches nach der Grundschulzeit folgt, sollte so verändert werden, dass alle Kinder vergleichbar anspruchsvolle Schulen besuchen können. Schließlich müssen alternative Angebote geschaffen werden, dass Schülerinnen und Schüler, die erstmals schulisch scheitern, Wege zur guten Schulbildung erhalten. Ich glaube aber, dass es auf absehbare Zeit nicht gelingen wird, die Struktur des gegliederten deutschen Schulwesens grundlegend zu verändern.
Sie haben die Ergebnisse zahlreicher Studien zum Schulsystem analysiert, die im Zeitraum 2000 bis 2019 durchgeführt wurden. Was waren dabei Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Deprimierend ist, dass in allen dieser Studien der gleiche Befund herauskam: Kinder aus finanziell schwachen Familien und Kinder mit Migrationsgeschichte sind im deutschen Schulsystem benachteiligt. Der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft und schulischem Erfolg ist sehr eng. Obwohl die Studien das Problem aufzeigten, gab es von der Politik mehr Rhetorik als Handlung, um das Schulsystem zu reformieren. Auch erschreckend war für mich, dass Kinder aus finanziell schwächeren Familien und Kinder mit Migrationshintergrund bei vergleichbarem schulischen Leistung seitens ihrer Grundschule eine geringere Chance haben, eine Empfehlung für den Besuch eines Gymnasiums zu erhalten.
Wie würden Sie das deutsche Schulsystem auf einer Skala von eins bis sechs benoten?
Ich finde, dass das Notensystem von eins bis sechs sehr problematisch ist, da das Schulsystem sehr viele Dimensionen hat. Werden hinreichende kognitive ebenso wie soziale Kompetenzen vermittelt? Oder ist das Schulsystem sozial gerecht? Das sind nur einige Beispiele für die vielen Bereiche im Schulwesen. In jedem einzelnen Bereich würde ich andere Noten vergeben. Eine Sammelnote daraus zu machen, das ist mir zu plakativ.
Interview: Anna-Maria Zouboulis
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