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„Vaters Meer“ von Deniz Utlu: Wenn der Vater zum sprachlosen Gespenst wird

„Vaters Meer“ von Deniz Utlu: Wenn der Vater zum sprachlosen Gespenst wird
Foto: Unsplah/Sabine Ojeil

In seinem dritten, autofiktionalen Roman „Vaters Meer“ beschreibt Deniz Utlu das Leben eines Teenagers, dessen Vater nach zwei Schlaganfällen weder gehen noch sprechen kann. Das hinterlässt einen tiefen Eindruck, meint MADS-Autorin Lisa.


In „Vaters Meer“ erzählt der aus Hannover stammende Autor Deniz Utlu in berührender Sprache die Geschichte eines deutschtürkischen Teenagers, der fast ohne Vater aufwächst, nachdem dieser zwei Schlaganfälle erlitt. Der sprachlose Vater schwebt wie ein Gespenst über Mutter und Sohn: noch bei ihnen, aber nicht wirklich da.

Ich-Erzähler Yunus wächst als Kind türkischer Eltern in Hannover auf. Sein Vater arbeitet für das Land Niedersachsen als Ingenieur im Straßenbau, die Familie lebt ein friedliches, meist glückliches Leben – auch wenn der Mutter der Abschluss als studierte Biologin in Deutschland nicht anerkannt wird und sie zunehmend ihre Heimat Ankara vermisst. Yunus wächst behütet und geliebt auf, und doch spürt man beim Lesen immer wieder seine Entwurzelung. Wie er zwischen zwei Ländern steht, beschreibt Deniz Utlu gekonnt in metaphorischer Sprache.

„Vaters Meer“: Die Kostbarkeit des Lebens

Als Yunus an der Schwelle zur Pubertät steht, erleidet sein Vater im Türkei-Urlaub einen ersten Schlaganfall. Er kommt ins Krankenhaus, entlässt sich ein paar Tage später selbst, um wieder bei der Familie zu sein. In einer der folgenden Nächte kommt „der zweite Fall meines Vaters“, wie Yunus erzählt. Der Vater verliert seinen Gang und das Sprachvermögen. Fortan ist er in der Wohnung in Hannover ein gelähmter Körper, eine Hülle, die im Bett liegt und mit der Mutter noch über Blinzeln kommunizieren kann. Der Vater ist zum Gespenst geworden, nicht fort, aber auch nicht mehr da. Und Yunus begreift, wie kostbar und schmerzhaft das Leben ist. Ohne die Unterstützung seines Vaters muss er sich der Pubertät stellen. Er wird ein junger Mann, den sein Vater nie wirklich kennen wird: „Vater war groß, ich war klein, und ich wusste, wir hatten eine Unendlichkeit Zeit, eine ganze Unsterblichkeit.“

Poetische, berührende Sprache

All dies erzählt Utlu ohne überbordende Sentimentalität und in poetischer Sprache. Yunus‘ erste richtige Freundin sagt ihm im Stadtwald, dass er bei den Blättern der Bäume in die Zwischenräume sehen solle. In so einem Zwischenraum lebt der Vater,
noch lose mit der Umwelt verbunden, aber unfähig, richtig an ihr teilzunehmen. Das Erste, das der Vater der Mutter mit seinen Augen sagt, ist: „Ich dachte, ich wäre tot.“ Und dass sie ihn doch verlassen und mit einem gesunden Mann noc hmal neu anfangen solle. Doch die Mutter bleibt, kümmert sich gleichermaßen um Sohn und Vater.

Keine chronologische Erzählung in „Vaters Meer“

Utlu springt zwischen den Zeiten, in den Erinnerungen von Yunus umher. Immer wieder wird auch die Perspektive des Vaters aus der dritten Person erzählt. Es geht um türkische Politik und Geschichte, um das Leben in zwei Kulturen, um Liebe und Familienzusammenhalt. „Vaters Meer“ ist ein bewegender Roman, dessen Worte nach der Lektüre lange nachhallen. Ein Buch, das dabei hilft, die menschliche Vergänglichkeit zu ertragen.

Von Lisa Neumann


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Über den Autor/die Autorin:

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