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„Toyoko Kids“: Wieso Jugendliche in Japan freiwillig obdachlos sind

„Toyoko Kids“: Wieso Jugendliche in Japan freiwillig obdachlos sind
Foto: Manuel Velasquez/Unsplash

Selbstgewählt obdachlos – das sind die „Toyoko Kids“ im Kabukicho-Distrikt in Tokio. Die Kinder und Jugendlichen haben ein Zuhause, doch schlafen lieber auf der Straße. Woran das liegt – und wie ihnen geholfen wird.


Triggerwarnung: Dieser Text behandelt die Themen häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch.

Die „Toyoko Kids“ gehören im Kabukicho-Distrikt in Tokio zum Straßenbild. Sie tragen baggy Klamotten, oft im Emo- oder Anime-Style, wie in etlichen Tiktok- und Instagram-Videos zu sehen ist. Ihr Kleidungsstil nennt sich „dark kawaii“ oder „jirai-ke“ und soll ihre mentalen Probleme zum Ausdruck bringen, schreibt die „Japan Times“. Doch die Kinder und Jugendlichen, die auf dem Platz rund um das Toho-Kino sitzen, fallen auch noch auf andere Art und Weis auf. Sie trinken Alkohol, rauchen, und viele von ihnen nehmen auch noch andere Drogen. Eigentlich haben sie alle ein Zuhause – doch zusammen bilden sie eine neue Gemeinschaft. Wer sind die Kinder und Jugendlichen – und warum wählen sie die Obdachlosigkeit?

Ihr Name setzt sich zusammen aus den Worten „To“, der Abkürzung für das Toho-Kino, und „Yoko“, was im Japanischen so viel wie „daneben“ heißt. Die Kinder, die sich auf dem Platz um das Toho-Kino in Kabukicho versammeln, sind also wortwörtlich die „Kinder neben dem Toho-Kino“.

Flucht von Zuhause

Eine weitere Sache schweißt die „Toyoko Kids“ zusammen: Sie alle hatten Probleme in den eigenen vier Wänden, vor denen sie fliehen wollten. Sie sehnten sich nach Gemeinschaft, Zusammenhalt – quasi einer neuen Familie. Viele der Kinder und Jugendlichen haben zu Hause Gewalt psychischer, physischer oder sexueller Art erfahren.

Arbeit auf dem Straßenstrich

Die Toyoko Kids schlafen meistens alle zusammen in einem Hotelzimmer oder in Internetcafés. Manche von ihnen sind Influencer oder sogenannte „Icons“, also japanische Popstars. Doch viele von ihnen verdienen ihr Geld auf den Straßenstrichen in Kabukicho. Masanori Amano, Leiter der Nippon Kakekomidera, einer Hilfsorganisation, erzählt im Gespräch mit der „Japan Times“ von einem Mädchen, das gerade mal zehn Jahre alt sei und sich prostituieren müsse. Er erzählt, dass das manchmal sogar schon System habe. So würden die Jungs die Mädchen verprostituieren und wie Zuhälter agieren.

Ursache: Kindesmissbrauch

Hinter dem Phänomen „Toyoko Kids“ stecken gesellschaftliche Probleme Japans, mit denen das Land schon länger zu kämpfen hat. Denn seit der Corona-Pandemie steigen die Kindesmissbrauchsfälle in Japan stetig. 2022 lagen sie laut „Kyodo News“ bei 219.170 Fällen. In 60 Prozent davon erfuhren die Kinder psychologischen, in 23 Prozent physischen und in 1,1 Prozent sexuellen Missbrauch. Die Dunkelziffer wird weitaus höher geschätzt, da die Betroffenen sie häufig nicht anzeigen, sondern stattdessen weglaufen. Sowie Eguen, die in einem Interview berichtet, wie sie nach sexuellem Missbrauch in ihrer Familie floh.

Meistens meldet die Polizei die Fälle. Das geht allerdings nur, wenn sie alarmiert wird. Doch auch sie verzeichnet Rekordzahlen in Japan, wie die Werte der „National Police Agency“ bestätigen.

In vielen anderen Städten wie Osaka und Fukuoka bilden sich ähnliche Gemeinschaften wie die „Toyoko Kids“, berichtet die „Japan Times“. Machiko Osawa erklärt in ihrem Buch „Towards a Society Where You Can Say ‚Help‘ – Sexual Violence and Gender Inequality in Japan“, dass eine schambelastete Haltung gegenüber Vergewaltigungen in Japan noch stark verbreitet sei. Viele Japaner und Japanerinnen würden noch an die sogenannte „Rape Myth“ glauben, laut der das Opfer selbst Schuld an der Vergewaltigung sei. Eine Studie belegt außerdem, dass Opfer sexueller Gewalt – die bei den Vorfällen in über 50 Prozent unter 15 und in über 20 Prozent unter zehn Jahre alt waren – sich selbst für den Missbrauch verantwortlich machen. Das könnte ein weiterer Grund für die Flucht von zu Hause sein.

Hilfe für „Toyoko Kids“

Organisationen wie Nippon Kakekomidera versuchen, den Jugendlichen zu helfen. Sie versorgen sie mit Essen und gelegentlich mit Wohnungen und schaffen so den ersten Schritt für eine bessere Perspektive. Außerdem wollen sie den Betroffenen signalisieren, dass nicht alle Erwachsenen schlecht sind. Aufklärung , beispielweise an Schulen, über sexuellen und Kindesmissbrauch scheint es kaum zu geben, auch die Medienberichte zu den „Toyoko Kids“ beinhalten diesen Aspekt nicht. Auch die Organisation Nippon Kakekomidera erklärt im Gespräch mit der „Japan Times“, dass sie die Kinder den ersten Schritt machen lassen. Sollten diese aber darüber reden wollen, was ihnen zu Hause widerfahren ist, so kümmere sich die Organisationen um die (auch teilweise psychologische) Betreuung der Kinder.

Von Olivia Bodensiek


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