Re-Entry-Anxiety: Die Angst vor dem sozialen Leben nach Corona
Durch die sinkenden Corona-Zahlen werden zahlreiche Regelungen gelockert und es gibt die Aussicht auf ein normales Leben – für viele eine riesen Erleichterung. Doch manche belastet es auch. MADS-Autorin Ella (20) erzählt, wie die neu gewonnen Freiheiten sie verunsichern.
Geöffnete Cafés, Shoppen erst mit, dann ohne Test und größere Feiern sind nach und nach wieder ein Schritt zur Normalität. Nach Monaten des Lockdowns gibt es endlich Lockerungen, und die Wahrscheinlichkeit eines ganz normalen Lebens ohne Einschränkungen wird immer größer.
Wenn ich über die nahegelegene Bummel- und Gastrostraße schlendere, sehe ich oft volle Tische und Schlangen vor den kleinen Läden. Hinter den Masken höre ich Gelächter, und die Erleichterung der Laden- und Restaurantbesitzerinnen ist spürbar. Auch ich muss lächeln. Die Szenerie lässt mich – abgesehen von den Masken – nicht mehr an Corona denken. Ich weiß, wenn ich Lust habe, kann ich mich jetzt einfach in ein Café setzen. Wie früher.
Doch ich bin überfordert. Und ich weiß gar nicht so richtig, warum. Ich hab mich doch so auf die Lockerungen gefreut. Endlich wieder essen gehen, einigermaßen normal bummeln und mehr soziales Leben. Und klar, ich freue mich auch, wenn ich die Lockerungen genieße. Aber die Aussicht auf größere Veranstaltungen, Menschenmassen und einen normalen Alltag verunsichern mich.
Nach Corona: Ungewohnte Menschenmassen
In der Stadt rempeln mich Menschen an, die Bahnen werden immer voller, und ich fühle mich unsicher. So viele Menschen auf einem Fleck – das bin ich nicht mehr gewohnt. Oft merke ich, dass ich unruhig oder genervt werde und mich erst wieder beruhige, wenn die Menschenmassen hinter mir lasse. An volle Clubs und Raves will ich nicht wirklich denken.
Eigentlich liebe ich es, Menschen um mich herum zu haben. Vor Corona war ich jedes Wochenende feiern, war in Cafés, hab jede freie Zeit mit meinen Freunden und Freundinnen genutzt. Ich dachte auch, dass ich mit den Lockerungen genau das wieder tun werde. Aber ich merke, dass ich neben der Freude auch Angst vor so vielen Menschen und sozialen Aktivitäten habe.
Angst vor sozialem Leben
In den vergangenen Monaten war das Treffen mit jemandem ein Highlight. Ich war viel zu Hause, habe mich um die Uni gekümmert und in meinem Zimmer einen gewissen Safe-Space gebildet. Inzwischen habe ich irgendwie einen ungefähren Tagesplan, gehe ab und zu mal für eine Stunde mit jemandem spazieren oder einkaufen. Aber nicht zu oft. Denn ich merke: Meine soziale Batterie ist schnell verbraucht. Lieber liege ich alleine in meinem Bett oder sitze auf dem Balkon.
Jeder hatte im vergangenen Jahr Zeit, sich zurückzuziehen, und musste dafür auch keine Erklärung abgeben. Denn man sollte zu Hause bleiben, arbeitete im Homeoffice und studierte via Onlineunterricht. Doch jetzt erwartet jeder, dass man bei jedem Treffen, Feiern und Essen dabei ist. Schließlich muss die verlorene Freizeit aufgeholt werden. Aber eben das setzt mich unter Druck. Es ist absurd. Ich habe so viel Freude am sozialen Leben und gleichzeitig Angst davor.
Nach sozialer Isolation: „Re-Entry-Anxiety“
Aus psychologischer Sicht ist dieses Phänomen nicht ganz neu. Bereits im vergangenen Jahr tauchte in dem Time-Magazin der Begriff „Re-Entry-Anxiety“ (zu deutsch: Wiedereintrittsangst) im Zusammenhang mit der Corona-Krise auf. In einem Interview mit der Instyle definiert die Psychotherapeutin Kelly Keck den Begriff: „Meistens geht es darum, sich ängstlich zu fühlen, wenn man mit Aktivitäten konfrontiert wird, die sich vor der Pandemie völlig normal und sicher angefühlt hätten.“ Inzwischen ist dieser Ausdruck ein durchaus gängiger Begriff, um eben diese Gefühle zu beschreiben.
Mittlerweile habe ich gemerkt, dass einige meiner Freunde, Freundinnen und Bekannte ähnlich empfinden. Ob es die Unruhe in den vollen Bahnen oder der soziale Druck ist – viele sind durch die Lockerungen auch ein wenig verunsichert. Und auch wenn niemand so richtig weiß, warum, beruhigt es mich, dass ich nicht alleine bin. So kann ich mit meinen Freunden darüber reden, und wir können uns gemeinsam an die Situation rantasten. Außerdem versuche ich, mir klarzumachen, dass ich nicht immer bei allem dabei sein muss. Die anderen brauchen auch mal ihre Zeit für sich und werden mich deswegen nicht verurteilen.
Ihr fühlt euch durch die Pandemie psychisch belastet? Hier haben wir Kontaktdaten von Organisationen gesammelt, bei denen ihr Hilfe erhaltet.
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