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„Wir sind doch alle ein bisschen autistisch“: Selbstdiagnosen boomen auf Tiktok

„Wir sind doch alle ein bisschen autistisch“: Selbstdiagnosen boomen auf Tiktok
Foto: Unsplash/Carol Magalhaes

Wenn jedes noch so kleine Verhaltensmuster plötzlich als Symptom herhalten soll: Auf Tiktok sind ADHS und Autismus ein großes Thema. Woher kommt der Wunsch, sich selbst eine Diagnose zu erteilen?


Mentale Gesundheit ist kein neues Thema in den sozialen Medien. Aufklärung, Awareness, den richtigen Umgang mit sich und anderen finden – darum soll es gehen. Jedoch erfahren einzelne psychische Krankheiten oder neurologische Störungen auch immer wieder einen regelrechten Hype, der dazu führt, dass das dazugehörige Vokabular inflationär genutzt wird. Plötzlich ist man nicht mehr traurig, sondern depressiv. Und wer es gern ordentlich mag, hat direkt OCD (Obsessive Compulsive Disorder, zu Deutsch Zwangsstörungen). Aktuell im Trend: Tiktok-Videos, in denen Menschen einzelne Symptome von Autismus und ADHS präsentieren.

Ein Problem dabei: Allein schon durch den Algorithmus können Nutzerinnern und Nutzer in eine Spirale der Bestätigung geraten, die wenig mit ihnen persönlich, sondern mit der Funktionsweise des Algorithmus zu hat. Wem bestimmte Inhalte gefallen, der bekommt sie häufiger von Tiktok vorgeschlagen.

ADHS-Diagnose als Wunsch nach Zugehörigkeit

Doch wieso möchten sich Menschen selbst diagnostizieren? Eine Ursache sei der Wunsch nach Zugehörigkeit, sagt Christine Preißmann. Sie ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, Autorin und selbst Asperger-Autistin. Einer ihrer Schwerpunkt: die Autismus-Diagnostik im Erwachsenenalter. Die Gesellschaft werde bunter und vielfältiger, meint Preißmann. „Das ist ja eigentlich auch schön. Gleichzeitig hat man es aber als Mensch, der sich sehr von den anderen unterscheidet, einfach schwer. Das ist der Punkt, wo man für sich nach Erklärungen sucht, und vielleicht auch nach Hilfsmöglichkeiten.“

Christine Preißmann. Foto: privat

Diese Erklärungen finden junge Menschen zunehmend in den sozialen Medien. Kommentarspalten unter Videos zu ADHS-Merkmalen etwa zeigen, dass sich viele damit identifizieren können. Das Besondere an ADHS- und Autismus-Symptomen ist aber, dass sie auch bei neurotypischen Menschen auftreten können. Es kommt auf die Intensität und Kombination der Merkmale an, ob ADHS und/oder Autismus vorliegen. Und selbst bei zwei Menschen, die beide autistisch sind, kann sich die Konstellation und Ausprägung der Merkmale unterscheiden.

Foto: Screenshot/Tiktok

Abgrenzung zu anderen Diagnosen kann schwierig sein

„Das Problem ist außerdem, dass die Symptome bei Autismus in ähnlicher Form auch bei ganz verschiedenen psychischen Erkrankungen auftreten können“, sagt Preißmann. „Eine Borderline-Störung ist oft sehr ähnlich. Bei einer sozialen Phobie ist die Abgrenzung auch oft sehr schwer.“ Dafür brauche es viel Erfahrung und psychologisches Wissen. „Darum bleibt eine Selbstdiagnose nur eine Selbsteinschätzung“, sagt die Medizinerin und betont dabei das Wort „Einschätzung“.

Preißmann schließt jedoch nicht aus, dass eine solche Selbsteinschätzung manchmal ausreichend sein kann. Diese Erfahrung habe sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis gemacht. „Ich habe auch Patienten, die sagen, sie müssen das nicht unbedingt wissen“, erzählt sie. „Manche haben den Eindruck, es könnte in die Richtung Autismus gehen, brauchen aber keine Diagnose, weil sie in ihrem Alltag gut zurechtkommen.“ Eine offizielle Abklärung halte sie dann für nötig, sobald ein Leidensdruck bestehe, etwa bei psychischen Begleiterkrankungen. „Einige autistische Menschen sind ja auch depressiv oder leiden unter Ängsten. Dann sollte man schon gucken, was dahintersteckt, weil man dann die Therapie besser ausrichten kann.“

Unterstützung oft nur mit Diagnose möglich

Auch um Hilfen in Anspruch zu nehmen, kann sich eine offizielle Diagnose lohnen – ein Nachteilsausgleich kann zum Beispiel für eine fairere Situation im Studium sorgen. Bei ADHS gibt es die Möglichkeit, Betroffene mit Medikation zu unterstützen. Diese Erfahrung hat auch Marco gemacht. Er ist 18 Jahre alt und wurde offiziell mit ADHS und Autismus diagnostiziert. Daraufhin bekam er in der Schule Nachteilsausgleiche und Medikamente, die ihm im Umgang mit seiner ADHS helfen.

Marco. Foto: privat

Der ADHS-Verdacht bestand bei Marco schon seit frühster Kindheit. Doch erst nach zehn Jahren erfolgte die Diagnostik. „Dadurch dass ich ja auch autistisch bin – auch wenn das zu dem Zeitpunkt noch nicht klar war -, gestaltete sich die Diagnostik noch schwieriger“, erzählt er. Bis zur Autismus-Diagnose dauerte es ein weiteres Jahr.

Wartezeiten erschweren offizielle Diagnose

Eine Zeit lang war Marco viel auf Tiktok unterwegs. Dort sind ihm auch einige Videos über ADHS und Autismus begegnet. „Die einzelnen Videos ließen aber meistens gar nicht durchblicken, ob die Person offiziell oder selbst diagnostiziert ist“, erzählt er. „Wenn dann doch mal eine Person erwähnt hat, dass sie selbst diagnostiziert ist, hat sie auch immer gesagt, dass sie viel Recherche zu diesem Schritt gebracht hat.“ Viele Selbstdiagnoszierte würden sich auch eine offizielle Diagnose wünschen, meint Marco. Doch einige Faktoren könnten das erschweren, etwa die Wartezeiten. Zwölf bis 24 Monate Wartezeit sind nicht ungewöhnlich bei einer Spezialambulanz. Teilweise sind die Wartelisten auch ganz geschlossen.

Einseitige Forschung zu ADHS und Autismus

Ein weiteres Problem: Wie viele Bereiche der Medizin war auch die ADHS- und Autismus-Forschung lange Zeit nur auf Jungen und Männer ausgelegt. Zunächst sogar nur auf Jungen. Man ging davon aus, dass sich ADHS und Autismus später „verwachsen“ würden. Stereotype bestehen in Teilen auch heute noch. Autismus bei Mädchen und Frauen wird häufig übersehen. Insgesamt können es Menschen, die in anderen Bereichen auf Vorurteile und Diskriminierung stoßen, beispielsweise durch Sexismus, Rassismus oder Transfeindlichkeit, so auch bei einer ADHS- oder Autismus-Diagnostik schwerer haben.

„Ich würde mir von der Diagnostik wünschen, dass der ganze Prozess angepasst wird“, sagt Marco. „Wenn ich an viele Fragebögen denke, sind die oft sehr starr und nach Klischees gestaltet. Es zeigen sich zum Beispiel nicht alle autistischen Menschen emotionslos. Und Menschen mit ADHS sind nicht unbedingt negativ auffällig, im Sinne von provokativem, aggressivem Verhalten.“ Es kann also sein, dass sich Menschen durch Selbstdiagnosen den Klischees und langen Wartezeiten der offiziellen Diagnostik entziehen wollen. Doch was ist mit denen, die einfach nach ein paar Videos meinen, sie könnten plötzlich aus der Betroffenenperspektive sprechen?

Sprüche wie „Wir sind doch alle ein bisschen autistisch“ oder „Manchmal habe ich auch ADHS“ kursieren durchaus auf Social Media. Ob ernst gemeint oder als Scherz auf Kosten Betroffener – wer sich ein wenig länger mit diesen Themen auseinandersetzt, wird merken, dass solche Aussagen nicht stimmen.

„Hinter Selbstdiagnosen steckt oft viel Recherche“

Marco meint jedoch: „Die meisten Menschen beschäftigen sich nach meiner Erfahrung wirklich sehr lange mit den ganzen Themen. Und zweifeln dann auch oft immer noch an der Validität ihrer Selbstdiagnosen.“ Darum könne es hilfreich sein, trotz der langen Wartezeiten und teilweise klischeehaften Fragebögen eine offizielle Diagnostik zu machen. Einerseits um wirklich Gewissheit zu haben. Und natürlich um möglicherweise Unterstützung zu erhalten.

Von Tom Schwichtenberg


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