Wie merkt man, dass man nicht binär ist, Neo?
Nicht binäre Menschen nehmen in der Gesellschaft wenig Raum ein – auch innerhalb der queeren Community. Neo (keine Pronomen) erzählt im MADS-Interview, wie sich das bessern kann und warum das Gendern mit Sternchen in Neos Augen keinen Sinn ergibt.
Der Pride Month soll sensibilisieren bezüglich sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, allerdings rückt er dabei häufig cis Menschen und sexuelle Orientierungen in den Vordergrund. Neo (keine Pronomen) studiert in Hannover und ist eine genderqueere Transperson.
MADS: Neo, was bedeutet eigentlich nicht binär?
Neo: Ich würde sagen, es gibt zwei verschiedene Aspekte, die man sich da anschauen muss. Es gibt nicht binär als Schirmbegriff für verschiedene Identitäten und nicht binär als eigene Geschlechtsidentität. Mit nicht binär sind alle Geschlechtsidentitäten gemeint, die außerhalb vom binären Geschlechtersystem existieren, in dem wir sozialisiert werden. Das heißt, wenn wir sozialisiert werden, wird uns gesagt, es gibt nur Männer und Frauen. Wenn sich Menschen nicht in diesen beiden Kategorien wiederfinden, dann identifizieren sie sich als nicht binär oder im Kontext einer nicht binären Identität.
Ist nicht binär ein guter Begriff oder bevorzugst du einen anderen? Manche Leute sagen ja auch queer?
Queer ist eine sexuelle Orientierung. Im deutschsprachigen Raum wird queer jedoch auch als Sammelbegriff benutzt und für die komplette Community verwendet. Sowohl wenn es um Geschlechtsidentitäten geht als auch um die sexuelle Orientierung. Was ich kritisch sehe ist, dass man den als Sammelbegriff für die ganze Community nimmt, damit machen wir trans*- und nicht binäre Lebensrealitäten wieder ein Stück weit unsichtbar. Ein wichtiger Hinweis noch: Nicht binäre Menschen können auch trans* sein oder eben auch nicht. Das sind keine Kategorien, die sich ausschließen.
Wie merkt man eigentlich, dass man nicht binär ist?
Das ist witzigerweise eine Frage, die aus cis-Perspektive häufig gestellt wird. Die irgendwoher schon nachvollziehbar ist, weil wir in diesem System groß werden. Aber ich kenne da wenige, die einen Moment der Erkenntnis hatten. Wir setzen uns alle mehr oder weniger mit unserer Geschlechtsidentität auseinander, egal ob cis oder nicht. Das habe ich auch gemacht und irgendwann gemerkt: Es haut nicht hin! Das war ein krasser Prozess, und das ist es für Menschen, die sich nicht im binären Spektrum wiederfinden, immer. Dazu kommt noch, dass es so wenig Wissen und Vorbilder gibt. Wenn man in so einem System groß wird, ist es schwer, outside of the box zu denken und sich zu überlegen: Hey, es gibt noch was anderes als diese beiden Optionen, die mir da gezeigt werden.
Weiterbildung für mehr Inklusion
Gibt es da Medien, die du empfehlen kannst? Was hattest du für Vorbilder?
Man muss betonen, dass ich aufs Internet angewiesen war, da sich nur dort Menschen finden, die sich öffentlich zeigen. Nur durch Vorbilder und Menschen, die sich öffentlich zeigen, hab ich überhaupt für mich verstehen können, dass ich trans* bin und nicht in diesem binären Geschlechtersystem funktioniere. Einer der wichtigsten Menschen dabei ist Chella Man, das ist tatsächlich auch eine genderqueere Transperson. Vor allem auf Insta kann man richtig coolen Menschen folgen. Außerdem gibt es ganz viele trans*–Menschen, die auch Memoiren geschrieben haben, die super weiterbringend sind. Eines, was ich von einer trans*-weiblichen Person im Kopf habe, ist „Sissy – A Coming of Gender Story“ von Jacob Tobia. Extrem gut geschrieben, kann ich sehr empfehlen.
Was rätst du Menschen, die darauf achten wollen, inklusiver mit allen Menschen umzugehen?
Ich hab mich jetzt mit meiner eigenen Geschlechtsidentität das fünfte oder sechste Jahr auseinandergesetzt, und ich verstehe, ich bin nicht cis, sondern genderqueer trans*. Das ist ein unglaublich langwieriger Prozess. Ich versteh jetzt erst, wie unglaublich vergeschlechtlicht diese Welt ist und wie unglaublich schädlich das ist – für alle Menschen, aber vor allem für trans*- und nicht binäre Menschen. Das heißt, man muss extrem viel hinterfragen und sich immer bewusst machen, in welchen Situationen man Geschlecht mitdenkt. Dass Menschen immer denken, wenn ich mir einen Körper angucke, kann ich davon ein Pronomen und das Geschlecht ablesen. Das ist einfach nicht so. Es ist so wichtig, Körper vom Geschlecht zu trennen. Das ist fundamental, um das binäre System auseinanderzunehmen.
Und wie spreche ich inklusiver?
Da gibt es ein paar Punkte. Gendern ist ein guter Schritt. Lieber sind mir aber geschlechtsneutrale Formulierungen wie „Studierende“ weil ich nicht verstehe, wie man in der Sprechpause von „Student:innen“ mitgedacht werden soll. Es ergibt keinen Sinn, dass nicht binäre und Menschen anderer Geschlechtsidentitäten in der Leere dieser Sprechpause existieren sollen. Bei anderen Sachen sind Menschen noch weniger sensibel. Zum Beispiel: „Jeder kann das.“ Dieses jeder ist aber schon gegendert. Auch sowas sollte man im Kopf immer umformulieren in: Jede Person kann das. Das wäre deutlich inklusiver.
Keine Pronomen sind auch Pronomen
Was macht das mit dir, wenn Menschen dich doch noch mal mit Pronomen ansprechen? Und wie oft passiert das noch?
Zur Klärung: Ich nutze keine Pronomen, auch das sind Pronomen, beziehungsweise ist das eine Möglichkeit von Pronomen. Die Frage ist also eher, was passiert, wenn ich misgendert werde? Das passiert fast täglich, über Pronomen und vergeschlechtliche Begrifflichkeiten. Und es tut jedes Mal weh, weil man das Gefühl hat, man wird in seiner Identität einfach nicht gesehen. Es werden einfach Annahmen gemacht. Aber das wird mein Leben lang ein Problem sein, denn in meiner Lebenszeit wird man das binäre Geschlechtersystem nicht überwinden. Und vielleicht noch zur Ergänzung: Wenn man keine Pronomen nutzt, hat man immer noch ein Privileg denen gegenüber, die Neopronomen nutzen. Denn die werden viel heftiger abgewertet und lächerlich gemacht.
Gibt es Neopronomen, von denen du dir vorstellen könntest, dass sie sich durchsetzen?
Ich würde mir wünschen, dass wir nicht darüber reden müssten, was gut integrierbar ist, weil das immer aus der Perspektive der Dominanzgesellschaft passiert. Ich würde mir wünschen, dass es eine Grundoffenheit für alle Pronomen gibt.
Hast du das Gefühl, dass nicht binäre Menschen in der queeren Community genug Raum einnehmen und ausreichend repräsentiert werden?
Nein. Die queere Community ist sehr cis-dominiert. Aber da kommen noch andere Diskriminierungsformen dazu. Wenn mal trans*- oder nicht binäre Menschen gehighlightet werden, dann sind es meist schlanke, nicht behinderte, weiße Menschen. Auch ich habe allein dadurch, dass ich trans*-maskulin, weiß, schlank, deutsch und nicht behindert bin, viele Privilegien, die mich vor viel Diskriminierungserfahrung schützen. Trans*weibliche Menschen zum Beispiel sind viel krasseren Diskriminierungen ausgesetzt.
Neos Wünsche für die Zukunft
Was glaubst du, wie sich die Community verändern muss, um weniger diskriminierend zu sein?
Es existiert auf jeden Fall auch innerhalb der LGBTQIA-Community ein Machtgefälle zwischen cis-Menschen und Menschen, die nicht cis sind. Es fehlt auch an Sensibilisierung für viele weitere Diskriminierungsformen. Auf den CSDs in Deutschland zum Beispiel fehlen Spaces für mehrfach marginalisierte Gruppen, die Veranstalter denken sie nicht mit und BiPoC werden kaum repräsentiert.
Warum ist es so wichtig, sich mal mit dem Konzept von Binärität befasst zu haben?
Sich mit Binärität zu befassen ist zum einen eine Form von Befreiung, weil wir alle irgendwo gefangen sind in diesem System. Zum anderen ist es ein guter Ansporn, dass man, wenn man sich nicht damit befasst, zwangsläufig Diskriminierungsverhalten an den Tag legt und andere damit verletzt. Ich glaube daran, dass wir Menschen das eigentlich nicht wollen. Es kann also nur gut sein, sich mit den binären Geschlechtersystem auseinander zu setzen.
Was fehlt für dich im Pride Month für nicht binäre Menschen?
Es wird immer viel über Sichtbarkeit gesprochen. Aber das hilft nichts, wenn wir nicht sicher sind. Das gilt vor allem für mehrfach marginalisierte Menschen. Das zeigt sich auch an dem Übergriff während des CSDs an Hannovers Hauptbahnhof. Dort wurde eine nicht binäre Person körperlich angegriffen, und als ein trans*-Mann dazwischen ging, wurde er zusammengeschlagen. Man kann auf den CSD gehen und sichtbar sein, aber dabei ist man eben nicht sicher. Es muss sich so viel ändern, insbesondere in den Köpfen der Menschen, aber wenn ich mir eine Sache wünschen könnte, dann wäre es Sicherheit. Nicht nur für nicht binäre, sondern alle marginalisierten Menschen.
Interview: Jennifer Kramer
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Schon im Barock gab es fesche femal wirkende Klamotten für die Männlichkeit, zumindestens aus späteren Blickwinkeln betracht. Wie es darunter aussah, haben die Maler zumeist der Fantasie überlassen, wie es im damaligen Menschen selbst aussah, hat er wohlbehütet mit ins Grab genommen. Das Verhältnis von außen und Innen – ein sehr subjektives Konstrukt. Die heutige Attitüde, aus der eigenen kleinen Persönlichkeit ein gesellschaftliches Phänomen herstellen zu wollen zeigt nur den Verdrängungsimpuls, wirklich wichtige und existenzielle Dinge nicht angehen zu wollen / können. Der eine beschäftigt sich mit seiner Neuverortung in der Sprache und Biologie, der nächste kauft sich einen SUV als massiven Körperteilchenbeschleuniger, der übernächste zieht am vielleicht bald legalen Joint…. jeder hat seine Methode und damit auch einen gewissen Grad der Einflussnahme auf die sterbliche Gesellschaft.