Seite auswählen

Werbung

Underconsumption: Wenn Armut plötzlich trendy wird

Underconsumption: Wenn Armut plötzlich trendy wird
Foto: Unsplash/Etienne Girardet

„Geht nicht zu DM – Rennt!“, „Dieses Top darf auf keinen Fall in deinem Kleiderschrank fehlen“ und Co.: Geht es nach Tiktok, Instagram und Co. gibt es immer ein Produkt, was dir noch fehlt. Der Trend „Underconsumption Core“ stellt eine Gegenbewegung zum Überkonsum dar und regt dazu an, sich mit weniger zufriedenzugeben. Warum der Trend problematisch und hilfreich zugleich ist, kommentiert MADS-Autorin Tara.


Schuhe so lange zu tragen, bis sie nahezu auseinanderfallen, nur zwei Lippenstifte zu besitzen und Möbel erst dann auszutauschen, wenn sie nicht mehr funktionstüchtig sind: Das hört sich nach Normalität und der Lebensrealität vieler Menschen an. Nicht für Tiktok. Dort wird aus dieser Lebensweise ein neuer Trend. Auf der Plattform kursieren seit Wochen unzählige Videos, in denen vor allem Creatorinnen stolz präsentieren, wie wenige Produkte sie nutzen und wie sie diese erst aufbrauchen, bevor sie Neues kaufen. Ein Name für dieses ach so revolutionäre Verhalten darf natürlich auch nicht fehlen: „Underconsumption Core“.

Zwischen unzähligen Hauls, Must-haves und diversen weiteren Kaufempfehlungen scheint Underconsumption fehl am Platz zu sein. Denn mit wenigen Dingen auszukommen und erst etwas zu kaufen, wenn man es wirklich braucht, hat wenig mit aktuellen Fashion-Entwicklungen und Trends insgesamt zu tun. Da erscheint das neueste Social-Media-Phänomen doch deutlich vernünftiger – oder ist es am Ende nur die Romantisierung von Armut?

@dainty.nugs

Some underconsumption tips ive been trying to follow this year, i am actually spending WAY less already than last year on material items and way more on experiences, traveling, hobbies and spending time with loved ones! #underconsumption #deinfluencing #underconsumptioncore

♬ original sound – speedz!

Kein Trend, sondern Realität

Natürlich gibt es unzählige positive Aspekte des Underconsumption-Trends. Er ist gut für die Umwelt, da zum Beispiel Ressourcen bei der Produktion von Klamotten, Schuhen und mehr gespart werden und weniger Müll produziert wird. Aber auch für Menschen gibt es positive Effekte: Einige Studien deuten an, dass uns der Besitz von weniger Objekten indirekt langfristig glücklicher machen kann. Außerdem besagt der Choice-Overload-Effekt, dass es uns sogar mental auslaugen kann, ständig zwischen vielen Möglichkeiten aussuchen zu können.

Offensichtlich ist es aber ein großes Privileg, wenn sich Personen bewusst dafür entscheiden, weniger zu konsumieren. Denn für viele Menschen ist Underconsumption kein Trend, der mit süßer Hintergrundmusik und kleinen Clips auf dem eigenen Tiktok-Account beworben wird, sondern Realität. Gerade Familien mit niedrigem Einkommen können es sich schlichtweg nicht leisten, ein neues Paar Schuhe zu kaufen, wenn das alte Paar noch funktioniert. Underconsumption ist natürlich nicht zwangsläufig mit Armut gleichzusetzen, da auch Menschen ohne finanzielle Sorgen sich bewusst dafür entschieden können, ein gesundes Verhältnis zum Konsum zu haben – nur dass es dann eben das ist: eine bewusste Entscheidung.

Dass Armut romantisiert wird, ist auch kein neues Phänomen auf Tiktok: Seit Monaten trenden Videos auf der Plattform, in denen Creator die slawische Kultur in eine bestimmte Ästhetik pressen wollen und romantisieren. Über die Armut und gesellschaftlichen Probleme, die in den Ländern herrschen, wird dann einfach hinweggesehen.

Abgrenzung zum Minimalismus

Im Gegensatz zum Minimalismus erfordert Underconsumption nicht den Erwerb von neuen Produkten oder das Wegwerfen von anderen Dingen, die noch funktionieren, um der einfachen, klaren Ästhetik des Minimalismus zu entsprechen. Underconsumption regt dazu an, Dinge, die bereits gekauft wurden, so lange zu nutzen, bis sie nicht mehr nutzbar sind. Eins haben die beiden Bewegungen allerdings gemeinsam: Der Fokus liegt darauf, dass wir nicht unendlich viele Dinge brauchen und konsumieren müssen.

Was wir aus dem Underconsumption-Trend lernen können

Underconsumption gehört damit also zu einem der wenigen Tiktok-Trends, die tatsächlich einen Mehrwert haben. Er zeigt nämlich indirekt auf, wie viele Leute eine realitätsferne Wahrnehmung hinsichtlich ihres Konsumverhaltens und den damit verbundenen Klassenunterschieden haben. Wie in vielen Fällen hilft es allerdings nicht, konfrontativ und mit erhobenen Finger auf diese Menschen zu zeigen und ihnen Ignoranz vorzuwerfen. Menschen neigen dazu, schnell in eine defensive Abwehrhaltung zu fallen, wenn sie das Gefühl haben, dass jemand anderes sie belehren will und sich für etwas Besseres hält. Die Veganismus-Debatte zeigt diese Dynamik gut auf. Möchte man Personen eine neue Perspektive aufzeigen, ist es oft hilfreich, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Genau das schafft der Tiktok-Trend: Menschen werden mehr oder weniger subtil darauf aufmerksam gemacht, ihr eigenes Konsumverhalten zu hinterfragen und zu verändern, und das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wenn manche Menschen nun einen Core oder eine Ästhetik benötigen, um ihr problematisches Konsumverhalten zu hinterfragen, ist das okay. Wir müssen nicht immer die Gründe kritisieren, aus denen Menschen nachhaltigeres Verhalten zeigen. Hilft es manchen Personen eben, mithilfe des „Underconsumption Core“ bewusster zu konsumieren und damit auch der Umwelt (und das eigene Portemonnaie) zu schonen, dann ist das ein Gewinn – für sie selbst, aber eben auch gesamtgesellschaftlich.

Trotzdem darf man nicht vergessen, dass nur wenige Menschen bewusst das Privileg haben, sich für Underconsumption zu entscheiden und der Trend nur ein Abbild der Lebensrealität vieler Menschen ist. Und die können sich nicht mal eben umentscheiden, wenn der Tiktok-Trend nach ein paar Wochen wieder abebbt. Es bleibt zu hoffen, dass Underconsumption nicht nur ein kurzweiliger Trend bleibt, sondern langfristig Menschen für Veränderungen motiviert.

Von Tara Yakar


Lies auch:


Über den Autor/die Autorin:

MADS-Team

Unter diesem Namen sammeln wir Beiträge von Gastautorinnen und -autoren, Autorenkollektiven oder freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei MADS. Die Namen des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin stehen unter dem einzelnen Beitrag.

Poste einen Kommentar:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert