Studierende erzählen von ihrer Lebensrealität, doch Kretschmann hört nicht zu
Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, hat sich mit fünf Studierenden getroffen. Die Studierenden berichten von ihren Sorgen und Nöten, sie formulieren Wünsche und Ideen an die Politik, wie beispielsweise Öffnungskonzepte für Bibliotheken. Doch der Ministerpräsident reagiert mit wenig Empathie und schlechtem Rat. Ein Kommentar.
In einer Videoschalte traf Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf fünf Studierende. Die Studierenden berichteten, wie sie die Corona-Pandemie erleben und welche Sorgen und Nöte sie begleiten. Als abschließenden Rat und Trost gab Kretschmann den Studierenden diese Aussage mit: „Später werden Sie mit Interesse auf diese Zeit zurückblicken. Sie haben nämlich was erlebt.“ Diese Aussage ist zynisch und lässt tief blicken, wie wenig der Ministerpräsident die Lebensrealität von Studierenden versteht. Denn ja, wir erleben gerade ein historisches Ereignis. Es geht aber mit Millionen von Todesfällen und gravierenden Folgen einher – auch für Studierende.
Kretschmann verharmlost psychische Krankheiten
Kretschmann (72) äußerte gegenüber den Studierenden, es gäbe keinen Grund „depressiv zu werden“. Diese Aussage zeigt, wie wenig er über Depressionen weiß. Eine Depression ist eine ernst zunehmende psychische Krankheit mit vielen – teilweise noch nicht vollständig geklärten – Ursachen. Und doch können die derzeitigen Lebensumstände während der Pandemie eine vorhandene Depression verstärken oder erstmals auslösen.
Bisher scheint sich der Ministerpräsident Baden-Württembergs nicht mit den Sorgen der Studierenden auseinander gesetzt zu haben. Viele von ihnen haben ihren Job durch Corona verloren, sie bangen um ihre Existenz, haben Zukunftsängste, manche mussten wieder zurück zu den Eltern ziehen, weil sie sich ihre WG-Zimmer nicht mehr leisten können. Vielleicht fehlt Kretschmann das Einfühlungsvermögen. Schließlich hat er als Ministerpräsident mit guten Aussichten auf Wiederwahl und guten Pensionen viel erreicht. Studierende stehen noch ganz am Anfang von Karriere und Werdegang.
Zu den finanziellen Engpässen gesellen sich Einsamkeit und der Verlust des sozialen Umfelds. Das Studium findet größtenteils zu Hause am Schreibtisch statt, der Austausch mit Kommilitonen fällt weg. Freunde können nur einzeln getroffen werden – kurzum: Das typische Studentenleben liegt brach. Tagesabläufe und Semesterpläne, die dem Alltag Struktur geben, gibt es nicht mehr. Das Studium ist von großen Unsicherheiten geprägt. All das kann geht nicht spurlos an den Studierenden vorbei.
Studierende haben jeden Grund, sich Sorgen zu machen
Gegenüber der Rhein-Neckar-Zeitung merkte Politikerin Theresia Bauer (55), die bei dem Gespräch dabei war, an, dass das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen worden sei. Selbst wenn dem so gewesen sei: Ein Politiker sollte mit dem Wort „depressiv“ nicht leichtfertig umgehen. Wörter wie „traurig“, „frustriert“ und „enttäuscht“ sind da passender. Für diese Gefühle haben Studierenden allen Grund: Die Bibliotheken sind seit Monaten geschlossen, Präsenzlehre ist weitgehend nicht möglich, Informationen fehlen und das Studium ist zu einem reinen Klausuren-Schreiben verkommen – wenn überhaupt Klausuren stattfinden.
Der Ministerpräsident hat nicht zugehört
Kretschmann hatte die Gelegenheit, einen direkten Einblick in den Alltag und die Gefühlswelt der fünf Studierenden zu bekommen – und ließ die Gelegenheit verstreichen. Er zeigt sich völlig unempatisch und hört nicht zu. Denn anders lässt sich der Hinweis des Ministerpräsidenten, anderen ginge es noch schlechter und sie sollen die Pandemie als interessantes Ereignis erleben, nicht erklären. Schließlich haben Vergleiche zu noch größerem Übel noch nie getröstet. Sie entwerten lediglich die Erfahrung der Betroffenen.
Dabei sollte der Ministerpräsident die berechtigten Sorgen der Studierenden ernst nehmen, Empathie und Einfühlungsvermögen zeigen und auf die Sorgen reagieren. Die Schulen öffnen nach und nach wieder, warum also nicht auch die Bibliotheken? Es wird höchste Zeit, die Realität von Studierenden in politischen Entscheidungen mitzudenken. Schließlich funktioniert der Generationenvertrag – eine solidarische Vereinbarung zwischen Jungen und Alten innerhalb der Gesellschaft – nur wechselseitig. Solidarität hat in der Pandemie an Bedeutung gewonnen. Der junge, gesunde Teil der Bevölkerung schützt die Alten und Kranken. Im Gegenzug verpflichten sich die älteren Generationen, den Jungen eine gute Zukunft mit Perspektiven zu ermöglichen.
von Katharina Kalinke
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