Ist Mental Health Content auf Social Media hilfreich oder gefährlich?
Ein wichtiger Beitrag zu mehr #awareness oder eine Anleitung zur Fehldiagnose? Videos und Texte zu psychischen Erkrankungen häufen sich auf Social Media. Wir sehen uns das Phänomen Mental Health im Internet gemeinsam mit einer Expertin genauer an.
„Das, was hier passiert, ist keine Therapie für irgendjemanden“, sagt Basti in einem Video auf seinem Tiktok Account @notjustsad. Dort berichtet er über seinen Umgang mit Depressionen und Angststörung. Das macht er, damit andere Betroffene sehen, dass sie nicht allein sind und auch damit er sieht, dass er nicht allein damit ist. Den Anspruch, jemanden zu heilen, habe er damit jedoch nicht, stellt er in dem Video klar und macht damit auf ein Problem aufmerksam. Der Hashtag #mentalhealth trendet zwar, aber nicht immer zu Gunsten der Betroffenen – auch wenn es Vorteile hat, online über psychische Erkrankungen zu sprechen.
@notjustsad Instagram / TikTok ist KEINE Therapie. Ich bin kein Therapeut. #notjustsad #depression #mentalhealthawareness #mentalhealth ♬ Originalton – Basti (He/Him)
Die Möglichkeit, sich online zu vernetzen, ist „grundsätzlich etwas positives“, findet Prof. Dr. Kirsten Müller-Vahl. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und Expertin für Tourette. „Wenn ich überlege, wie schwierig es früher für Patienten war, mit anderen Betroffenen in Kontakt zu kommen, dann ist das heute wesentlich leichter“, sagt Müller-Vahl.
Mehr Aufmerksamkeit für Erkrankungen zu erreichen, sieht die Ärztin auch als einen wichtigen Punkt. Betroffene könnten dadurch das Gefühl bekommen, nicht der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der unter bestimmten Symptomen leidet. „Das kann auch Mut machen, zum Arzt zu gehen.“ Unter Bastis Video kommentiert jemand, dass ihm Erfahrungsberichte dabei geholfen haben, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Betroffene, die online über ihre Erkrankung sprechen, können über Behandlungsmöglichkeiten informieren. Auch können sie Symptome verständlich erklären. Müller-Vahl spricht hier von „Psychoedukation“. Das bedeutet, der Patient sollte viel über seine Erkrankung wissen, um verantwortlich damit umzugehen und passende Entscheidungen zu treffen. Dabei können Informationen im Internet helfen – aber auch zur Gefahr werden.
„Die Kehrseite ist, dass sich Menschen selbst diagnostizieren, zum Beispiel mit dem Tourette-Syndrom, Depressionen oder Angststörungen. Sie lesen sich Wissen an und tauschen sich mit Betroffenen aus, gehen aber nicht zu einer Expertin oder einem Experten“, sagt die Ärztin. „Durch das Pseudowissen wird der Fachrat nicht eingeholt.“
Patienten nutzen Fachbegriffe falsch
Müller-Vahl berichtet zudem, dass Menschen in die Tourette-Sprechstunde kommen und auf die Frage nach Symptomen mit Fachbegriffen antworten, wie zum Beispiel Koprolalie. Damit ist das Ausrufen von Schimpfwörtern gemeint. Dies ist aber Teil einer Diagnose, die nur die medizinische Fachkraft stellen kann. Im Herbst vergangenen Jahres kam es zu einer Art reihenweisen Ansteckung mit vermeintlichem Tourette über Social Media. Viele junge Menschen entwickelten Tics und stellten sich in der Tourette-Sprechstunde vor. Dabei stellte sich aber heraus, dass sie die gleichen Symptome zeigen wie sie auch in bekannten Youtube-Videos zu sehen sind, die die Betroffenen gesehen hatten. Die meisten von ihnen hatten zudem bereits Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen und zusätzlich auch mit belastenden Situationen wie Mobbing in der Schule zu kämpfen. Schnell wurde klar, dass es sich bei den meisten nicht um Tourette, sondern um sogenannte funktionelle Störungen handelte. Besonders dabei ist wichtig, dass Betroffene nicht weiterhin solche Videos gucken, da das die Symptome verstärken kann.
Andere Ärzte sind jedoch nicht so sehr über die Darstellung von Erkrankungen auf Social Media informiert und stellen dann eventuell die falsche Diagnose – beeinflusst von dem Wissen, das die Patienten mitbringen. Hinzukommt, dass junge Menschen anfälliger für Selbstdiagnosen sein können, da ihre Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Müller-Vahl übt zudem Kritik an einigen Creatorn, die Symptome eines Tourette-Syndroms falsch darstellen: „Wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdient und besonders die Symptome immer und immer wieder gezeigt werden, die die meisten Klicks bekommen, dann ist zu vermuten, dass die Symptome teilweise oder sogar ganz simuliert werden.“
#trauma hat 9,5 Billionen Aufrufe bei Tiktok
Auch bei anderen Erkrankungen kann die Darstellung auf Social Media fehlerhaft sein. Beschreibungen von Depressionen wird dann eine besondere Ästhetik verliehen. Begriffe werden so lange verwendet bis sie an Bedeutung verlieren. Der Hashtag #trauma hat 9,5 Billionen Aufrufe bei Tiktok, #gaslightning 1,3 Billionen und #narcissist kommt auf 4,2 Billionen Aufrufe. Alle drei Begriffe gehören zum Fachvokabular von Therapeuten und werden durch das häufige Benutzen in sozialen Medien verwässert, so lauten kritische Stimmen wie die von Seerut K. Chawla. Sie ist Psychotherapeutin in London und postet auf Instagram über die Probleme von #instatherapy.
Zahlreiche Tiktokvideos erklären vermeintlich, was alles Anzeichen für ein Trauma sein könnte. Chawla sieht das anders. Sie betont in ihren Posts, dass so eine Herangehensweise zu sehr verallgemeinert und auch nicht hilfreich ist. Zudem kritisiert sie, dass dazu meist zu simple Lösungen angeboten werden, die die individuelle Lebensrealität der Menschen außer Acht lassen. Diese vermeintlichen Lösungen kommen oft von Creatorn, die sich zwar als „Experten“ oder „Coaches“ ausgeben, jedoch keine offizielle Qualifikation haben, um über solche Themen zu sprechen. Hier ist Vorsicht geboten.
Den Punkt der gefährlichen Verallgemeinerung teilt auch Basti, der sich in seinem Video auf Chawla bezieht. „Man muss den individuellen Fall sehen, den sieht niemand bei Instagram oder Tik Tok“, sagt er. Ebenso sagt Müller-Vahl: „Eine Therapie kann erst dann erfolgen, wenn die richtige Diagnose gestellt wurde.“
Von Leonie Habisch
Lies auch: