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„Gewitter im Kopf“: Ein Youtube-Kanal rund um das Tourette-Syndrom

„Gewitter im Kopf“: Ein Youtube-Kanal rund um das Tourette-Syndrom
Foto:  janzett98/ Instagram

Unwillkürliche Bewegungen und wiederholte Schimpfwörter: Damit müssen viele Menschen mit dem Tourette-Syndrom leben. Einer von ihnen ist Jan Zimmermann. Auf dem Youtube-Kanal „Gewitter im Kopf“ klärt er, gemeinsam mit seinem Freund Tim, über das Krankheitsbild auf und zeigt, wie das Tourette sein Leben beeinflusst.


Natürlich fliegt da wieder ein Flugzeug. Das ist in den Videos von Jan und Tim fast schon Tradition. Und wie so oft muss „Gisela“ das kommentieren. „Da fliegt der Osama“, ruft sie mit tiefer Stimme, als sie die Motorengeräusche hört. Es ist noch einer ihrer harmloseren Sprüche. Wenn man ihr so zuhört, man könnte „Gisela“ für einen furchtbar schlechten Menschen halten. Einen Menschen, dem es vielleicht Spaß macht, mit Beleidigungen und Schimpfwörtern um sich zu werfen. Aber das wäre falsch. Denn „Gisela“, das ist der Name, den Jan Zimmermann seinem Tourette-Syndrom gegeben hat. Sie ist neben ihm und seinem Freund Tim Lehmann quasi der dritte Star in den Videos von „Gewitter im Kopf“.

1,4 Millionen Abos innerhalb von einem halben Jahr

„Gewitter im Kopf“ ist das deutsche Youtube-Phänomen des Jahres. Der Kanal hat ein unglaubliches Wachstum hingelegt. Im Februar erschien das erste Video, im Mai hatte der Kanal schon eine Million Abonnenten. Inzwischen sind es sogar mehr als 1,4 Millionen. Der schnelle Erfolg hat Jan und Tim selbst total überrascht. „Beim ersten Video dachten wir, vielleicht interessiert das so hundert Menschen“, erzählt Tim. Inzwischen hat es mehr als eine Million Aufrufe. „Momentan ist alles ein bisschen überwältigend.“

Dabei sind die Videos von „Gewitter im Kopf“ nicht einmal besonders aufwendig produziert. Im Gegenteil, am Anfang filmten Jan und Timsich sogar noch mit dem iPhone. Nein, was die Menschen zu „Gewitterim Kopf“ treibt, ist das, was dort gezeigt wird. Sie kommen und bleiben wegen „Gisela“. Für viele Zuschauer ist der Kanal wohl die erste Begegnung mit dem Tourette-Syndrom.

Tics wie „Bombe“, „Allahu Akbar“ oder „Hitler“: Tourette im Alltag

Eine Waldlichtung in der Nähe von Bonn. Hier wollen Jan und Tim ihr nächstes Video drehen. Tim baut das Stativ auf, Jan steckt sich schon mal ein Mikro an. Dann setzen sich beide auf eine Bank, umgeben von Bäumen.

„In unseren Videos wollen wir über das Tourette-Syndorm und meinen Alltag sprechen“, erklärt Jan. Deshalb zeigen die Videos Jan auch oft in Alltagssituationen: im Zoo, beim Pizza backen, bei seiner Ärztin. Wie dieser Alltag aussieht, das verdeutlicht auch die kurze Fahrt zum Drehort. Jan darf selbst kein Auto fahren. Wenn ihn jemand anderes mitnimmt, muss er hinten sitzen, damit er nicht ins Lenkrad greift. Die Kindersicherung ist immer an, denn „Gisela“ versucht während der Fahrt gerne mal, die Autotür zu öffnen. Und während Jan ruhig erzählt, wie seltsam er es findet, dass mittlerweile Fans vor seiner Wohnung auftauchen, meldet sie sich immer wieder zu Wort, ruft „Bombe“, „Penis“, oder auch „Brillenfotze“, wenn das Gegenüber eine Brille trägt. Dazu kommen weitere Tics: Jan verzieht das Gesicht, verdreht die Augen, pfeift, macht „heh“ und unwillkürliche Bewegungen mit den Armen. Der Unterschied zwischen dem netten, ruhigen Jan und „Gisela“ könnte nicht größer sein.

Alles nur gespielt? Der Erfolg zieht auch Hater an

Jans Krankheitsbild ist extrem. „Ich weiß, dass ich eher das Klischee erfülle. Deshalb erwähnen wir ja immer, dass das der Ausnahmefall ist“, sagt Jan. Viele Menschen mit Tourette haben zum Beispiel keine Koprolalie – so nennt man es, wenn Menschen mit Tourette obszöne Schimpfwörter rufen. Doch der Erfolg des Youtube-Kanals, die Aufmerksamkeit, die Jan und Tim nun bekommen, ruft Zweifler auf den Plan. Wie so oft bei Youtube stellt sich die Frage: Was ist wahr, was ist fake? Ein Tourette-Forscher aus Lübeck unterstellte gegenüber dem MDR vor Kurzem sogar, dass Jans Tourette gar nicht echt sei: Ganze Sätze seien für „Touretter“ sehr untypisch, ihre Tics seien nicht variabel und auch nicht auf konkrete Situationen abgestimmt. Auch ein paar der Zuschauer fragen sich in den Kommentaren, ob Jan nicht – zumindest teilweise – schauspielert.

Auf solche Zuschauerfragen wollen Jan und Tim heute eingehen. Sie beantworten sogenannte Hasskommentare. „Die gibt es bei uns echt wenig. Ich hab bis nachts suchen müssen“, sagt Tim. Jan hat für das Video auch extra einige Dokumente in Klarsichthüllen mitgebracht – es sind seine Atteste. Darin bescheinige ihm etwa die Medizinische Hochschule Hannover seine Erkrankung – und unter anderem auch, dass sie sich in Form ganzer Sätze äußere, erzählt Jan seinen Zuschauern.

Video: „Hater Kommentare – Alles nur gespielt? Neuroentertainment?“

Dass andere Menschen Jan Schauspielerei vorwerfen, sei traurig, sagt Tim. Jan selbst sieht das zwar als Teil der Aufklärung an, sagt aber: „Menschen die ein anderes Krankheitsbild haben, müssen sich nicht rechtfertigen. Für meine Epilepsie musste ich das noch nie tun.“

Warum er sich so, durch Youtube, der Öffentlichkeit zeige, will ein anderer Nutzer wissen. „Wenn ich vor die Türe gehe, zeige ich mich auch der Öffentlichkeit“, antwortet Jan. Seine Krankheit lässt sich nicht einfach so abstellen. Den Drang, unflätige Wörter in die Welt zu posaunen oder unpassende Kommentare von sich zu geben, vergleicht er mit Schluckauf oder einem Niesen. Es lässt sich vielleicht kurz unterdrücken, doch danach wird es nur schlimmer. Trotzdem lernt Jangerade in einer Verhaltenstherapie, die Beleidigungen und unpassenden Wörter in unverfängliche Begriffe umzuleiten.

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„Gewitter im Kopf” erntet positives Feedback von Betroffenen

Immer wieder betonen Jan und Tim, die sich schon seit Jahren kennen, dass sie zeigen wollen, dass es okay ist, anders zu sein. Doch ist ein Youtube-Kanal der richtige Weg dafür? Die Tourette-Gesellschaft Deutschland und der Interessenverband Tic-&-Tourette-Syndrom haben ihre Zweifel. In einer Stellungnahme von Anfang Juni schrieben sie, die Videos von Jan und Tim sorgten für eine „verstärkte Stigmatisierung und Ausgrenzung“ von Betroffenen. Am 10. Juli aktualisierten die beiden Vereine das Statement: Es gebe durchaus auch positives Feedback von Betroffenen. Davon berichten auch Jan und Tim. „Der größte Teil sieht das positiv“, sagt Tim.

Die beiden Freunde finden es wichtig, mit der Krankheit auch humorvoll umzugehen. „Die Grenze ist dann erreicht, wenn man die Person hinter dem Tourette-Syndrom nicht mehr sieht“, sagt Jan. Oder wenn die Tics nachgeäfft oder ganz bewusst ausgelöst würden. Insgesamt aber, berichten die beiden, würden sie schon merken, dass die Akzeptanz durch die Videos im Alltag größer geworden ist. „Die Leute schauen uns immer noch an…“, sagt Jan. „Aber jetzt wegen des Kanals“, ergänzt Tim.

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Von Anna Schughart/RND


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