Experte über Femizide: „Häufig blenden Männer Frauenhass vorschnell aus“
Laut Statistik begeht in Deutschland alle drei Tage ein Mann einen Femizid: Den Mord an einer Frau. Im vergangenen Jahr zählten Behörden 114 solcher Fälle, in den ersten zwei Monaten des Jahres 2024 sind es bereits 20. Jurist und Journalist André Ricci erklärt, warum das Thema so politisch aufgeladen ist und wie bessere Prävention aussehen könnte.
André, wie und warum setzt du dich mit dem Thema Femizide auseinander?
Trauriger Anlass sind Verbrechen, die in den letzten Jahren bei uns im Heidekreis an Frauen verübt worden sind. Mein Anliegen war es, den Begriff in unserer lokalen Berichterstattung einzuführen und zu etablieren. Damit soll die Struktur und die Verbindung zwischen den Taten aufgezeigt werden. Das Thema drängte sich auf, und als Jurist bin ich dafür in gewisser Hinsicht sensibilisiert.
Was genau zeichnet Femizide aus?
Femizide sind Totschläge oder Morde, die aus einem geschlechtsspezifischen Motiv von Partnern oder Ex-Partnern, manchmal auch von Familienangehörigen, an Frauen verübt werden. Im weitesten Sinne geht es dabei um Frauenhass und damit um ein misogynes* Weltbild von Männern, wobei auch der sogenannte Ehrenmord ein Femizid ist. Femizide ergeben sich häufig aus einer Gewaltspirale und meistens aus der Trennung einer Frau von ihrem männlichen Partner. Ursachen sind oft toxische Dynamiken in Beziehungen oder fehlende Akzeptanz der Trennung und verletzter Stolz eines Mannes. Die Täter legen ein Besitzdenken und Bestrafungsmotiv an den Tag, weshalb sie das zukünftige Leben von Frauen entweder gänzlich auslöschen oder negativ beeinflussen wollen. Oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr* seitens der Männer, die den Frauen die Schuld für die gegen sie gerichtete Gewalt geben. Dem Femizid gehen häufig Drohungen und körperliche Übergriffe voraus.
Der Begriff Misogynie bedeutet Frauenfeindlichkeit oder Frauenhass, den Männer Frauen entgegenbringen. Im Zuge dessen wird Männern mehr Wert zugesprochen als Frauen, die Geringachtung und Verachtung ausgesetzt sind.
Die Täter-Opfer-Umkehr, auch als Victim Blaming bekannt, meint eine Schuldumkehr. Damit wird die Schuld für eine Tat dem Opfer anstatt dem Täter zugeschrieben, sodass das Leid des Opfers maßgeblich verstärkt wird.
Wie weit reicht ein Femizid?
Es ist zu beobachten, dass Täter es sowohl auf ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen absehen als auch manchmal auf das unmittelbare persönliche Umfeld der Frauen wie zum Beispiel den neuen Partner oder die Kinder. In diesen Fällen könnte man von erweiterten Femiziden sprechen, analog zum Begriff des erweiterten Suizids.
Zur Person: André Ricci ist Volljurist, Mitglied der Correctiv-Redaktion und investigativer Reporter der Lokalredaktion der Böhme Zeitung im Heidekreis. In seiner journalistischen Arbeit hat er sich bereits mit mehreren Fällen von Femiziden auseinandergesetzt.
Was genau fordert die feministische Bewegung?
Eine feministische Forderung ist unter anderem die obligatorische Klassifizierung von Femiziden als Morde, nicht als Totschläge. Auch die Aufnahme des Femizid-Begriffs als eigenen Straftatbestand in das Strafgesetzbuch wird manchmal gefordert. Ganz allgemein geht es darum, Femizide als gesellschaftliches Problem zu erkennen und ernst zu nehmen, statt von isolierten Einzelfällen und „Familiendramen“ auszugehen.
Was ist der Unterschied zwischen einem Totschlag und einem Mord?
Beides meint eine vorsätzliche Tötung, aber der Mord wird wegen seiner besonderen Verwerflichkeit härter, nämlich zwingend mit lebenslanger Haft bestraft. Die besondere Verwerflichkeit kann sich aus dem Tatmotiv oder der Tatausführung ergeben. Im Strafgesetzbuch sind die Varianten als Mordmerkmale abschließend aufgeführt.
Warum ist es so wichtig, Femizide als solche zu benennen?
Es ist unheimlich erschreckend, dass alle drei Tage in Deutschland ein Femizid verübt wird. Das muss endlich sichtbar gemacht werden. Es muss das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass das ein strukturelles Problem ist. Ohne einen richtigen Begriff und die statistische Aufarbeitung und Bündelung der Fälle geht das unter. Es geht am Ende um die Vermeidung schwerster Straftaten und die innere Sicherheit als Kernaufgabe des Staates. Dieser muss sich fragen lassen, ob er alle notwendigen Maßnahmen ergreift.
Ist der Femizid als Rechtsbegriff denkbar?
Das Wort Femizid ist kein Rechtsbegriff. Vielmehr ist er ein politischer Begriff, der aus dem Feminismus kommt und im Journalismus und in der Politik bereits etabliert zu sein scheint. Ich denke nicht, dass das Wort Femizid unbedingt ins Strafgesetzbuch eingeführt werden muss. Aber ein klarstellendes Mordmerkmal der Geschlechtsspezifität als Tatmotiv könnte ich mir gut vorstellen.
Was stellt ein häufiges juristisches Problem dar?
Auf der Vollzugsebene ist eine Sensibilisierung der Richterinnen und Richter für diese Straftat erforderlich. Häufig blenden gerade Männer in der Rolle des Richters Frauenhass als Tatmotiv vorschnell aus und gelangen über die Fokussierung auf die Seelenlage des gekränkten Täters zum Totschlag statt zum Mord.
Wie sieht es im Bereich der Prävention in Deutschland aus?
Das bundesweite Gewaltschutzgesetz sieht Maßnahmen wie das Kontaktverbot vor. Außerdem hat Deutschland die Istanbul-Konvention unterzeichnet. Die Gefahrenabwehr und die Polizeiarbeit sind aber Ländersache und die Prävention und Beratung geht oft von ehrenamtlichen Organisationen aus. Der Handlungsspielraum der Polizei ist in vielen Fällen zu begrenzt, sodass effektive Maßnahmen nicht früh genug ergriffen werden. Femizide geschehen nicht aus heiterem Himmel. Zu den Warnzeichen eines möglicherweise bevorstehenden Femizids und den damit einhergehenden Verhaltensweisen eines potenziellen Täters hat die Kriminologin Jane Monckton Smith ein Acht-Phasen-Modell erstellt.
Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der 2011 ausgearbeitet wurde. Dabei handelt es sich um ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.
Wie könnte eine erfolgreiche Prävention aussehen?
Frauen sollten sozial abgesichert sein, wenn sie sich von ihrem Mann trennen. Vor allem, wenn vom Mann psychische, physische oder auch finanzielle Gewalt ausgeht. Ausreichende Opferhilfestrukturen mit Frauenhäusern und Beratungsstellen müssen finanziell und personell abgesichert sein, Richterinnen und Richter sollten durch Schulungen für geschlechtsspezifische Tathintergründe sensibilisiert werden. Noch sind das Bewusstsein und die Strukturen zu oft von der Manpower und dem Fallaufkommen vor Ort abhängig.
Was sind deine persönlichen Forderungen oder Wünsche für die zukünftige Berichterstattung über das Thema?
Es wäre wünschenswert, dass das Thema nicht in Händen des feministischen und politischen Aktivismus verbleibt, sondern dass auch der Staat sich darum kümmert. Zudem wäre mir wichtig, dass die Berichterstattung sowohl von Frauen als auch von mehr Männern ausgeht. Es ist fast schon ungewöhnlich, wenn sich ein Mann mit diesem Thema auseinandersetzt. Dabei geht es auch Männer etwas an.
Interview von Sandra Kopa
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