Doku „Girl Gang“ über Influencerin Leoobalys: „Neues Universum der Selbstdarstellung“
Leonie ist gerade Teenagerin, da startet sie als Influencerin durch – gemanagt von den eigenen Eltern. Regisseurin Susanne Regina Meures hat das Mädchen für ihren Dokumentarfilm „Girl Gang“ begleitet – und spricht im MADS-Interview über soziale Medien und neue Idole.
Frau Meures, wie sind Sie für Ihre Doku auf das Thema Influencer gekommen?
2017 saß ich in einem Park und habe Mädchen dabei beobachtet, wie sie Pantomimen- und Lip-Sync-Tänze gemacht und sich dabei gegenseitig gefilmt haben. Mittlerweile kennen wir Tiktok, aber damals hatte ich das Gefühl, dass ich ein neues Universum der Selbstdarstellung und Selbstreflexion betrete. Ich habe dann mit mehr als 160 Mädchen gesprochen, auf der Straße, in Schulen, in Parks, über Instagram. Leonie traf ich an einer Jugendmesse. Und sie vereinte alle Eigenschaften eines jungen Mädchens, das ihr Leben durch die sozialen Medien lebt. Leonie war zu dem Zeitpunkt 14 Jahre alt, hatte eine halbe Millionen Follower und die volle Unterstützung ihrer Eltern.
Influencer werden oft belächelt und nicht ernst genommen – hat dieses Vorurteil ihre Herangehensweise an das Thema beeinflusst?
Gar nicht. Damals war mir das Wort „Influencer“ auch kein Begriff, genauso wenig wie den meisten Leuten. Ich bin an das Thema völlig offen rangegangen, mit einer großen Neugierde.
Zur Person
Susanne Regina Meures, geboren 1977, ist Autorin und Regisseurin. Ihr erster Dokumentarlangfilm „Raving Iran“ wurde auf Festivals weltweit gezeigt und gewann zahlreiche Auszeichnungen. „Saudi Runaway“, ihr zweiter Film, feierte Weltpremiere am Sundance Film Festival 2020 und wurde unter anderem für den Europäischen Filmpreis 2020 nominiert. „Girl Gang“ ist ihr dritter Dokumentarfilm.
Ist der Hintergedanke des Films eher eine Auseinandersetzung mit Influencern allgemein, oder geht es mehr um Leonie und Familie als Individuen?
Ich wollte keinen Film über das Phänomen soziale Medien oder Influencer machen. Ich bin in die Familie eingetaucht und habe ein intimes Porträt gemacht, an dem man das Phänomen beobachten und erzählen kann. Die Zuschauer werden mitgenommen auf eine Reise in unseren Zeitgeist, in den Backstagebereich von Instagram.
Der Titel „Girl Gang“ spielt auf eine Gruppe von Mädchen an, obwohl nur Leonie im Fokus steht. Warum?
Ich hatte anfänglich geplant, einen Film über Leonie und ihre Freundinnen zu machen. Ich habe dann aber relativ schnell gemerkt, dass mich die Dynamiken innerhalb der Familie mehr interessieren. Trotzdem habe ich den Titel beibehalten, weil ich im Zuge dessen begriffen habe, dass die Girl Gangs von heute nicht mehr die Mädchen im Park sind, sondern die Mädchengruppen, die sich im Internet formieren.
„Girl Gang“ – der Trailer:
Wir sehen Leonie inmitten ihrer zahlreichen Fans, alles ebenfalls junge Mädchen. Glauben Sie, dass die Beziehung zu Idolen sich verändert, wenn es um Gleichaltrige geht, die ein ähnliches Leben führen?
Sicher, aber das hat weniger mit Alter als mit den „Werkzeugen“ zu tun, die wir mittlerweile nutzen. Idole stehen heute nicht mehr nur auf einer unerreichbaren Bühne. Durch die Möglichkeiten, mit den Idolen direkten Kontakt aufzunehmen, durch zum Beispiel Insta-Nachrichten und -Kommentare, entsteht eine bisher nicht gekannte emotionale Bindung. Häufig vergleiche ich Instagram mit einem digitalen Schulhof. Das Idol ist im Grunde das populäre Mädchen in der Schule, das einen Schritt weiter ist als man selbst. Aber immer in greifbarer Nähe.
Melanie, die als extremer Fan im Film vorkommt, ist nur wenig jünger als Leonie. Warum haben Sie sich entschieden, diese Perspektive einzubeziehen?
Als ich Leonie gefunden habe, wusste ich, dass ich auch das Leben der Fans beleuchten muss, um die Vergötterung von Leonie zu verstehen. Ich habe mit fünf Fans angefangen zu drehen, aber die emotionale Intensität, die sich bei Melanie offenbart hat, hat gereicht, um die Fangemeinde zu repräsentieren.
Sie haben die Familie über mehrere Jahre begleitet. Wie würden Sie ihre Entwicklung beschreiben?
Wir sind alle an dem Ganzen gewachsen. Leonie hat mit 13 aus Eigeninitiative mit Social Media angefangen und ist relativ schnell bekannt geworden. Als das Ganze zum Business geworden ist, haben sich die Eltern dafür entschieden, sie selbst zu managen. Das war für alle Neuland, und sie mussten sich reinarbeiten. Über die Jahre sind sie professioneller geworden, die Arbeit hat zugenommen, Leonie ist in die Pubertät gekommen – was eine Zeitlang sicher auch nicht immer einfach war. Leonie hat auf jeden Fall eine außergewöhnliche Jugend gehabt.
Die Konflikte zwischen Leonie und ihren Eltern kommen vielen sicher bekannt vor – nur dass die meisten Eltern nicht auch die Manager ihrer Kinder. Beschwert das gemeinsame Arbeiten die Beziehung, oder hilft ein gemeinsames Ziel?
Es ist sicher beides. Einerseits war es für die Eltern sicher schwierig, denn sie mussten Grenzen setzen, erziehen, aber gleichzeitig als Manager Leonie auch ermahnen, Dinge zu erledigen. Das sind teilweise paradoxe Dynamiken, die nicht immer einfach zu bewältigen sind. Aber andererseits habe ich erlebt – und erlebe immer noch – unglaublichen Zusammenhalt. Wie ein symbiotisches Dreiergespann mit größter Loyalität und Liebe.
Der Film beginnt und endet mit einer Erzählung, eingeleitet mit „Es war einmal …“. Ist Leonies Geschichte ein modernes Märchen?
Vielleicht würde ich die Geschichte so bezeichnen, aber es ging auch um etwas anderes: Was wir hier im Film beobachten, passiert im Moment. Ich habe versucht, mit der Märchenerzählung eine distanzierende Maßnahme zu installieren, in der Hoffnung, dass man mit neuen Augen auf unsere außergewöhnliche Zeit blicken kann.
Ähnlich auffällig ist der Chorgesang, der oft normale Szenen, in denen Leonie etwa ein Tiktok filmt, untermalt. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Mir war klar, dass ich nicht die Musik nutzen möchte, die Kids heute benutzen, um zum Beispiel Tiktoks zu untermalen. Die Philosophie der Gegenwart greift ja die sozialen Medien immer wieder als neue Religion auf. Es hat für mich das: Leonie, die Göttin, die sich hinter dem verspiegelten Glas unserer Handys befindet, zu der alle hinstreben. Die Mädchen formieren sich im Internet wie die Gläubigen. Der Chor war dafür die perfekte Analogie.
Sie haben Statistiken über Teenager und Influencer im Film erwähnt – viele schauen zu ihnen auf oder möchten selbst in die Branche einsteigen. Was nehmen junge Menschen aus „Girl Gang“ mit?
Was die jungen Menschen mitnehmen werden – das schätze ich, und das wurde mir so zurückgemeldet – ist, dass man nicht einfach so Influencer wird. Ich höre auch von Eltern, die nicht möchten, dass ihre Kinder Influencer werden. Da kann man alle durchaus beruhigen. Es braucht harte Arbeit und lange Hingabe, um sich eine Followerschaft aufzubauen. Gleichzeitig entsteht durch den Film eine Empathie für Leonies Familie, vielleicht auch allgemein Influencern gegenüber. Man sieht: Dahinter stecken ganz normale Menschen.
Info: „Girl Gang“ startet am 20. Oktober in den deutschen Kinos.
Interview: Marie Bruschek
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