„Die Lüge“ auf Netflix: Fesselnde Miniserie mit gesellschaftskritischer Note
In der neuen Netflix-Miniserie „Die Lüge“ entfaltet sich ein gesellschaftskritisches Familiendrama, das seinesgleichen sucht. MADS-Autorin Marie meint: Die sechs Folgen des schwedischen Krimis haben absolutes Binge-Potential – aber auch ein Manko.
Die Serie, bei der es sich um eine Adaption des gleichnamigen Romans von Mattias Edvardsson handelt, beginnt in der Vergangenheit. Die damals 15-jährige Stella Sandell (Alexandra Karlsson Tyrefors) wird in einem Handballcamp von einem der Aushilfstrainer vergewaltigt und ihre Eltern kehren die Sache ohne Anklage unter den Tisch. Die Befürchtung: Stella könnte ohne Beweise nicht geglaubt werden, sodass sie mehr unter dem Prozess leidet, als sie es ohne ihn tun würde.
Vier Jahre später: Hat sich alles zum Guten gewendet?
In der Gegenwart wirkt die Familie Sandell nach außen hin wie eine völlig normale Kleinstadtfamilie: Der Vater ist Priester, die Mutter ist Anwältin, die Tochter mit Abitur träumt vom Reisen. Doch plötzlich steht die Polizei steht mit einem Durchsuchungsbefehl vor der Tür und die mittlerweile 19-jährige Stella wird festgenommen.
Der Vorwurf: Mord – und das an Christoffer Olsen (Christian Fandango Sundgren), mit dem Stella eine Affäre gehabt hat. Die beiden hatten sich nur sechs Wochen zuvor in einem Club kennengelernt und waren sich auf einer spontanen Fahrt nach Kopenhagen nähergekommen. Die Serie springt zu der Nacht, in der Chris ermordet wird. Schuldig am Mord soll Stella sein, worauf sich ihre Eltern jedoch keinen Reim machen können, da sie nicht einmal wissen, dass ihre Tochter den 32-jährigen Unternehmer kannte.
Stellas Eltern versuchen daraufhin vehement, Beweise zu vernichten und selbst herauszufinden, was in der verhängnisvollen Nacht passiert ist. Die Situation lastet schwer auf den beiden und anstatt zusammenzuhalten, entfremdet sich das Ehepaar immer mehr. Nach und nach kommen die Geheimnisse der Familie ans Licht – und alte Wunden fangen wieder an zu bluten.
Die Folgen der Vergangenheit
Denn auch vier Jahre später wirkt der sexuelle Übergriff auf Stella noch nach. Sie hat tief sitzende Traumata davongetragen, ihr Vater macht sich immer noch Vorwürfe. Die Entscheidung, von einer Anklage abzusehen, wirkt stets wie ein Keil zwischen den Eheleuten Sandell. Ihr Schweigen holt die beiden ein, als sie merken, wie wenig sie ihre Tochter eigentlich kennen. Könnte sie einen Mord begangen haben? Und was ist zwischen Stella und Chris überhaupt passiert?
In Flashbacks zeichnen die sechs Folgen der Serie ein Bild von Stellas Beziehung zu Chris und zu ihren Eltern – und von der Tatnacht aus unterschiedlichen Perspektiven.
Eine Geschichte voller Misstrauen und Gesellschaftskritik
„Die Lüge“, im schwedischen Original „En helt vanlig familj“ („Eine ganz normale Familie“), erzählt eine Geschichte voll von Misstrauen, sexueller Gewalt an Frauen und wie diese gesellschaftlich immer noch auf geschlossene Augen und Ohren trifft. Die Zuschauenden sind genauso ahnungslos wie Stellas Eltern und finden erst Stück für Stück heraus, was wirklich passiert ist.
Die Serie zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich Menschen mit sexueller und sexualisierter Gewalt umgehen. Das unverarbeitete Trauma, das Stella mit sich herumträgt, ist von außen auf den ersten Blick kaum wahrzunehmen. Der Krimi überzeugt hier durch seine Realitätsnähe und die dargestellten Perspektiven. Auch die komplexen Beziehungen zwischen den Charakteren wirken authentisch.
„Die Lüge“: Packender Thriller mit einem Manko
Das einzige Manko ist die Darstellung der juristischen Arbeit in „Die Lüge“. Die Beweisführung der Staatsanwaltschaft gegen Stella bewegt sich auf recht dünnem Eis: So wurden lediglich Stellas Fußabdrücke vor dem Haus, in dem Chris wohnt, gefunden und das Pfefferspray in Chris Augen soll von der gleichen Marke wie ihres sein. Außerdem wurde sie in der Tatnacht von einem Augenzeugen vor Chris Haus gesehen. Dafür, dass Stella in ihrer Untersuchungshaft komplett isoliert wird, sind das wenige Beweise. Sie darf mit niemandem reden außer ihrem Anwalt und der Gefängnispsychologin – nicht einmal mit ihren Eltern.
Trotzdem ist die schwedische Serie ein packender und emotionaler Thriller, der unter die Haut geht. Nicht nur die komplizierten Familiendynamiken werden thematisiert, auch die Probleme des aktuellen Rechtssystems und die Auswirkungen toxischer Beziehungen finden ihren Raum in der feministischen Miniserie.
„Die Lüge“ kann seit dem 24. November 2023 auf Netflix gestreamt werden.
Von Marie Thielebörger
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