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Das Serien-Experiment „Criminal“ bei Netflix: Hier geschieht der Mord im Kopf

Das Serien-Experiment „Criminal“ bei Netflix: Hier geschieht der Mord im Kopf
Foto: joseharo/Netflix/dpa

Mit „Criminal“ wagt der Streamingdienst Netflix Außergewöhnliches: Ensembles aus vier Ländern simulieren eine Verhörsituation in identischer Kulisse. Und das ist verdammt spannend.


Ende 2014, der Brexit drohte kaum am Horizont und die AfD war noch ein versprengtes Häuflein eurokritischer Patrioten, da wollte der Kulturkanal Arte dem Kontinent zeigen, wie eng Europa verknüpft ist, ohne identisch zu sein. Das Mittel dazu war ein „Tandem“ getauftes Experiment, in dem Teams aus Frankreich und Deutschland je einen Film zum selben Thema drehten: Atomkraft.

Während links vom Rhein eine federleichte Gesellschaftskomödie um urbane Profitgier im Bann dörflicher Sturheit entstand, inszenierten deutsche Fernsehmacher eine Art Katastrophenkrimi, in dem es tüchtig krachte. Besonders das deutsche Ergebnis war zwar missraten. Doch sorgte es im Vergleich mit der französischen Herangehensweise für einen interessanten Blick in die TV-Befindlichkeiten beider Nachbarn – und diente gewissermaßen als Vorbild eines Nachfolgeprojekts, mit dem Netflix von Freitag an das Prinzip der internationalen Zusammenarbeit steigert.

Deutschland, Frankreich, England und Spanien drehen vor identischer Kulisse

Fast sechs Jahre und eine Medienrevolution nach Artes binationalem Distinktionswettbewerb später erweitert der Streamingdienst das Teilnehmerfeld um Spanien und England auf vier Nationen, verbreitert den Handlungsrahmen ins diffuse Themenspektrum Krimi, engt es aber zugleich massiv ein. Die viermal dreiteilige Anthologieserie „Criminal“ spielt in der klaustrophobischen Enge eines Verhörraums, den die Protagonisten aus Deutschland, Spanien, Frankreich und England allenfalls mal Richtung Flur verlassen.

Zwei Ermittler und ein Verdächtiger, teils mit anwaltlicher Begleitung, sitzen am Tisch und reden, schweigen, gestikulieren, manövrieren, taktieren ohne Ablenkung, ohne Entkommen, stets im Blick dreier Polizeianalysten, die das Kammerspiel durch blickdichtes Glas im Nebenzimmer beobachten.

Die Dialoge in „Criminal“: Stringent, fesselnd, brillant

Das Resultat sind zwölf abgeschlossene Kommunikationskunstwerke, die beinahe durchweg inhaltlich stringent, dramaturgisch fesselnd und phasenweise brillant sind. Dies hat einen simplen, aber kreativen Grund: Die Kulisse ist für jedes der beteiligten Länder identisch. Wenn die Kriminalisten ihre Landsleute also zum Tathergang wechselnder Delikte aushorchen, variiert zwar die Sprache und gegebenenfalls das Heißgetränk to go von Kaffee zu Tee. Die Beteiligten sitzen jedoch im selben Waschbetonambiente desselben Szenenbildners – was nicht nur innovativ ist, sondern für einmalige Vergleichsmöglichkeiten nationaler Schauspieleigenarten sorgt.

Zum Beispiel der deutsche Auftaktfall von Thomas Hirschbiegel: Peter Kurth spielt den Kölner Immobilienhai Müller, der als Zeuge eines Todesfalls aus der wilden Nachwendezeit peu à peu zum Verdächtigen wird, den Eva Meckbach und Sylvester Groth als Kriminalisten virtuos durch den Fleischwolf ihrer Gesprächstechnik drehen.

In dieser Serie machen Schauspieler, was sie können: Spielen

Der Trialog dieser Ausnahmedarsteller mit Ausflügen ins Kompetenzgerangel bürokratischer Hierarchien ist von solcher Dringlichkeit, dass sie selbst typisch deutsche Effekthaschereien erträglich machen – Florence Kasumba zum Beispiel, die hinterm falschen Spiegel das Drehbuchpapier von Sebastian Heeg und Bernd Lange rascheln lässt. Oder die Unart, Filmfiguren selbst unter Druck nie aus der Fassung geraten zu lassen. Das unterscheidet dann auch die Fälle mit Deniz Arora und Nina Hoss vom britischen Debüt, in dem David Tennant („Broadchurch“) mehr und mehr in sich zusammenfällt, je weniger er den Mord an seiner minderjährigen Tochter leugnen kann.

Von Jan Freitag/RND


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