Seite auswählen

Werbung

Proteste im Iran: „Social Media schafft Sichtbarkeit“

Proteste im Iran: „Social Media schafft Sichtbarkeit“
Foto: picture alliance/dpa | Boris Roessler

Der Tod von Jina Mahsa Amini durch die Sittenpolizei hat im Iran eine Welle von Protesten und Streiks ausgelöst. Vor allem durch Social Media werden Videos davon weltweit verbreitet. Wie können die sozialen Netzwerke den Frauen vor Ort helfen?


Im September starb Jina Amini, deren offizieller persischer Name Mahsa Amini lautete. Der Grund: Ihr Hijab saß nicht eng genug. Die 22-Jährige wurde in der iranischen Hauptstadt Teheran am 13. September in Polizeigewahrsam genommen, fiel in ein Koma und starb drei Tage später im Krankenhaus. Laut polizeilichen Angaben erlitt Amini einen plötzlichen Herzinfarkt, Augenzeugen berichten dagegen von Gewalteinwirkung seitens der Polizei. Der Fall löste weltweit Wellen aus und sorgte für Proteste inner- und außerhalb des Landes. Vor allem auf Social Media wurde die Geschichte der jungen Frau verbreitet – und Solidarität mit ihr und den Frauen im Iran ausgesprochen. Seitdem sind die sozialen Netzwerke voll mit solchen Bekundungen.

Kampf um Rechte

Hintergrund des Falles ist die streng patriarchalische Regierung des Iran. Diese schreibt es Frauen vor, Hijabs zu tragen. Mit der Islamischen Revolution von 1979 wurde neben anderen frauenfeindlichen Gesetzen diese strenge islamische Kleiderordnung eingeführt. Bei Verstößen werden Frauen belästigt, verhaftet und teilweise auch hingerichtet. Seit 2005 gibt es dafür die sogenannte Sittenpolizei, der auch Amini zu Opfer gefallen ist. Ein weiterer medienwirksamer Fall ist der von Sepideh Rashno, die verhaftet und im Gefängnis misshandelt wurde, aber unter einer sehr hohen Kaution freigelassen wurde. Der Kampf der Frauen um Rechte hat nicht erst mit Aminis Tod begonnen – im Juli haben beispielsweise viele Frauen im Iran für einen Tag ihre Kopftücher abgelegt. Gerade Aminis Fall startete allerdings eine Welle an Protesten und Streiks.

Keine Pressefreiheit, aber Social Media

Laut dem World Press Freedom Index liegt der Iran in Sachen Pressefreiheit auf dem drittletzten Platz – Medien haben hier keine Kontrollfunktion, sondern verbreiten lediglich staatliche Narrative. Genau das macht Social Media umso wichtiger. Politikberater Martin Fuchs beschreibt die Rolle der sozialen Netzwerke in politischen Umbrüchen so: „Ich glaube, und das zeigen auch die Proteste im Iran, dass Social Media eine vitalisierende Wirkung hat; die Netzwerke geben unterdrückten Menschen eine Stimme, schaffen Sichtbarkeit und ermöglichen so Empowerment. Vor dem Internet und vor Social Media gab es das nicht in der Form.” Dennoch sei es wichtig zu beachten, dass Social Media keinen freien medialen Diskurs ersetzen kann. „Das ist ein zweiseitiges Schwert. Man muss in der Hinsicht gerade in Ländern wie dem Iran beachten, dass jeder, der sich per Social Media äußert, Ziel von Überwachung des Systems wird“, sagt Fuchs. „Ob sich der politische Diskurs im Land so verändert, da wäre ich zögerlich.”

Protestkultur heutzutage – nicht ohne Netz

Instagram, Twitter, Telegram und Tiktok dienen zudem der Berichterstattung und Verbreitung von Neuigkeiten. Ebenso werden darüber Demonstrationen und Proteste organisiert. So gibt es inzwischen mehrere Hashtags und damit verbundene Online-Bewegungen: #mystealthyfreedom, #whitewednesdays oder #girlsofrevolutionstreet. Die Bedeutung von Social Media für Protestbewegungen sieht auch Martin Fuchs: „Ich glaube, eine moderne Protestkultur heutzutage würde ohne Social Media und digitale Medien nicht mehr funktionieren. Man kann die Agenda beeinflussen, seine Meinung weit streuen, virale Wellen produzieren, Diskurse anleiten.” Daneben sei aber auch vor allem die Organisationsfähigkeit durch Social Media wichtig. Weltweit verstreute Menschen hätten jetzt sehr kostengünstige, effiziente Tools, mit denen sie sich vernetzen können – laut Fuchs ein riesiges Potenzial.

Protest im Iran: Empowerment und Frauenrechte

Wie Social Media konkret in Sachen Frauenrechten hilft, beschreibt Fuchs so: „Einmal hilft Social Media, Informationen zu teilen. Dazu können sie eine Informationsversorgung generieren, die nicht durch die klassischen Kanäle vor Ort passiert.” Wichtig sei auch der Empowerment-Gedanke: „Menschen können sich zusammenschließen, sich treffen, Zuspruch geben, und damit natürlich die Bewegung dynamisch machen und loszutreten.” Dazu hilft das Internet, um auf die Missachtung von Frauenrechten überhaupt aufmerksam zu machen.

Liken, reposten, weiterscrollen

In westlichen Ländern kommen zahlreiche solcher Videos an und erregen Aufmerksamkeit. Zeitgleich findet hier viel oberflächlicher Scheinaktivismus statt – liken, reposten, weiterscrollen. Dafür gibt es einen Fachbegriff: Slacktivism. User unterstützen Themen beispielweise mit einem Like oder einem Repost in der eigenen Insta-Story, weiteres Engagement findet darüber hinaus aber nicht statt. Kritikerinnen und Kritiker unterstellen diesem Phänomen, dass solche Handlungen keinerlei Einfluss auf die reale Welt haben, sondern Usern lediglich das Gefühl vermitteln, sich engagiert zu haben. Martin Fuchs sieht das anders: „Aktivismus verändert sich. Heutzutage ist es gleichberechtigt, wenn ich mich online oder analog beteilige. Wenn Jugendliche acht Stunden am Tag im Netz verbringen, ist ihre Version des Protests eben auch im Netz. Das ist nicht abzuwerten, ich sehe da eine Gleichberechtigung.”

Ähnlich umstritten ist performativer Aktivismus, der mindestens ebenso so häufig vorkommt. So haben sich viele deutsche Schauspieler und Schauspielerinnen aus Solidarität mit den Iranerinnen einzelne Strähnen abgeschnitten, nachdem französische Prominente dies vorgemacht haben. Die Idee dahinter: Sich die Haare abzuschneiden wird als Akt der Selbstbestimmung aufgenommen sowie als Protest gegen patriarchale Weiblichkeitsvorstellungen. „Manche Sachen sind nicht hilfreich, aber so eine Geschichte wie Haare abschneiden ist schon ein weitgehender Eingriff in meine Person, in mein Leben” sagt der Politikberater.

So ambivalent das Thema Social Media auch ist, eines bleibt klar: Aus den Protesten im Iran sind Instagram, Twitter, Tiktok und Co. nicht mehr wegzudenken.


Lies auch:


Über den Autor/die Autorin:

Marie Bruschek

Marie (20) studiert Weltliteratur. Wenn sie nicht gerade schlechte Wortwitze macht oder sich zum zehnten Mal Mamma Mia anguckt, schreibt sie für MADS über alles, was sie gerade interessiert.

Poste einen Kommentar:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert