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„Ey Puppe, geiler Arsch!“: Was Frauen im Alltag über sich ergehen lassen müssen

„Ey Puppe, geiler Arsch!“: Was Frauen im Alltag über sich ergehen lassen müssen
Foto: Saskia-Janice Dralle

Der Puls steigt, schnelle Blicke über die Schulter, der Schlüssel klemmt zwischen den Fingerknöcheln. Ob nachts oder am helllichten Tag: Sexuelle Belästigung und Gewalt ist für die meisten Frauen Alltag. Viele leben mit der ständigen Angst um die eigene Unversehrtheit oder müssen mit den Folgen von sexuell übergriffigen Taten leben. Unzählige Frauen haben eine Geschichte zu erzählen.

Mit Kreide gegen sexuelle Belästigung​

Unsensible Anmachen, vulgäre Sprüche und sexistische Beleidigungen – das alles fällt unter verbale sexuelle Belästigung und nennt sich Catcalling. Dass Catcalling passiert, ist kein Geheimnis. Dass sich jemand allerdings aktiv dagegen einsetzt und mit den Opfern Solidarität zeigt, ist vielen Menschen nicht bewusst. In einigen deutschen Städten gehören sie schon zum Stadtbild: bunte Sprüche mit dunklen Inhalten – mit einfacher Straßenmalkreide auf den Asphalt geschrieben.

Hinter diesen Kreideaktionen, sogenannten Chalks, steht die internationale Jugendbewegung Chalk Back. Mit ihren kunstvollen Gestaltungen schaffen sie für Opfer von sexueller Belästigung einen geschützten Ort, an dem sie anonym ihre persönlichen Geschichten teilen können, und machen gleichzeitig deren Erfahrungen für andere sichtbar. So entsteht Sensibilität für das Thema.

Eine Bewegung zeigt Zivilcourage​

Die Anfänge der Bewegung gehen auf die New Yorker Studentin Sophie Sandberg zurück, die 2016 aufgrund eigener Erfahrungen mit Belästigung den ersten Chalk-Back-Account, Catcalls of New York City, ins Leben rief. Mittlerweile gibt es solche Accounts in mehr als 150 Städten in 49 Ländern. Auch etliche deutsche Städte sind dabei, darunter Leipzig, Göttingen, Rostock und Dresden. In Hannover macht sich ein Ableger der Bewegung seit 2019 gegen Belästigung auf der Straße stark. Der hannoversche Account zählt mit mehr als 18.000 Followerinnen und Followern zu den größten in Deutschland.

Wir wollen mit unserer Kreide wirklich dahingehen, wo die Belästigung geschehen ist, um den Ort für die betroffenen Personen auch ein Stück weit zurückzuerobern.

Lucie von Gierke, Catcalls of Hannover

Gründerin der Catcalls of Hannover ist die 25-jährige Lisanne Richter. Auch sie wurde auf dem Weg nach Hause belästigt und wollte etwas dagegen tun. Da sie das Konzept aus New York kannte, übertrug sie es nach Deutschland. Aus diesem anfangs so kleinen Protest hat sich ein enormes Projekt entwickelt. Das Postfach ihres Instagram-Accounts wird stets voller.

Lucie ist seit drei Jahren Mitglied bei Catcalls of Hannover. Foto: Saskia-Janice Dralle

Während des Ankreidens kommen häufig ältere Menschen auf die Aktivistinnen und Aktivisten zu. „Was wir ganz oft haben, sind ältere Frauen, die selbst schon Belästigung erfahren haben in ihrer Jugend und dann sagen: Das war damals auch schon so, und ich finde das schön, dass ihr was macht“, erzählt Catcalls-of-Hannover-Mitglied Lucie von Gierke. Die Erfahrungsberichte stammen allerdings nicht ausschließlich von Frauen. „Ungefähr 90 Prozent unserer Einsendungen sind von FLINTA-Personen.“ Dazu zählen Frauen, Lesben, Inter-, nonbinäre, trans und Agender-Personen.

Beim Ankreiden bespuckt und verfolgt

Obwohl die Reaktionen auf ihre Arbeit sowohl online als auch auf der Straße überwiegend positiv ausfallen, bleiben die unschönen Erfahrungen den jungen Aktivistinnen und Aktivisten besonders im Gedächtnis. „Unser Team-Kollektiv wurde schon bespuckt, beleidigt, angefasst, mit Bier überschüttet, verfolgt. Unsere Ankreidungen werden teilweise weggewaschen oder überschrieben“, berichtet Lucie. Auch bei Instagram gibt es mal negative Kommentare und unangemessene Nachrichten. „Wir kriegen Drohnachrichten und Beleidigungen. Nicht so oft, aber wir zeigen das immer konsequent an.“ Doch das hält sie nicht auf. „Wir wollen mit unserer Kreide wirklich dahingehen, wo die Belästigung geschehen ist, um den Ort für die betroffene Person auch ein Stück weit zurückzuerobern.“

Nach zweijährigem Engagement in der Initiative Catcalls of Hannover ist Lucie überzeugt, dass sie mit ihrem Einsatz schon viel erreicht haben. „Unser Hauptmeilenstein oder das, was unsere Arbeit in erster Linie bezwecken soll, ist die Arbeit mit den Betroffenen.“ Das Kollektiv erhält sehr viele Nachrichten mit Zuspruch und Dankbarkeit. „Uns schreiben viele Personen, die vorher noch nie mit jemandem über die Belästigungserfahrung gesprochen und das dann teilweise über Jahre mit sich herumgeschleppt haben.“

Die Schuld liegt immer beim Täter oder der Täterin und nicht bei der betroffenen Person.

Lucie von Gierke, Catcalls of Hannover

Viele der betroffenen Frauen und Männer haben Scham davor zuzugeben, dass sie sexuell belästigt wurden. Aber vor allem sind es die Schuldgefühle, die sie plagen. Haben sie sich in kurzer Hose, bauchfreiem Top und mit zu viel Make-up doch zu freizügig präsentiert? Doch Lucie versichert: „Die Schuld liegt immer beim Täter oder der Täterin und nicht bei der betroffenen Person.“

An die Öffentlichkeit

Neben den Kreideaktionen, die sich an Tausende Passantinnen und Passanten richten, geben die Aktivistinnen und Aktivisten von Catcalls of Hannover Workshops für feministische Organisationen und politische Parteien, insbesondere Jugendgruppen und Jugendparteigruppen. „Uns ist es wichtig, dass wir lokal, feministisch, aktivistisch vernetzt sind. Das ist ein essenzieller Bestandteil, dass man sich gegenseitig unterstützt. Im nächsten Jahr wird da noch sehr, sehr viel passieren“, versichert Lucie.

Die Initiative kreidet immer dort an, wo es passiert ist. Foto: Saskia-Janice Dralle

Stadt und Region Hannover seien durch die Bewegung schon viel aufmerksamer auf das Thema geworden. Catcalls of Hannover arbeitet gemeinsam mit der Polizei und strebt im Moment eine Zusammenarbeit mit den Gleichstellungsbeauftragten deutschlandweit an. „Es wurde viel berichtet über uns im vergangenen Jahr, und dadurch ist das Bewusstsein der Bevölkerung gewachsen. Viele Leute kennen uns inzwischen, das ist immer besonders schön.“ Auch eine Kooperation mit der Stadt Hannover ist laut dem Kollektiv im Gespräch.

Sexuelle Belästigung kann man nicht objektiv, sondern nur subjektiv definieren, weil es auf jede Person einzeln ankommt.

Lucie von Gierke, Catcalls of Hannover

Doch wie genau lässt sich sexuelle Belästigung eigentlich definieren? Laut Paragraf 3 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes handelt es sich um sexuelle Belästigung, „wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten […] bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird“. Zu diesem Verhalten zählten auch „unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen“.

Die Catcalls of Hannover haben eine eigene Definition aufgestellt. „Sexuelle Belästigung kann man nicht objektiv, sondern nur subjektiv definieren, weil es auf jede Person einzeln ankommt“, sagt Lucie. „Was für mich belästigend ist, ist für dich vielleicht noch nicht belästigend, und andersrum genauso. Deshalb sagen wir immer: Sobald die betroffene Person sich belästigt fühlt, ist es eben auch Belästigung.“ Laut einer Studie der Hochschule Merseburg haben sich allein 97 Prozent der Frauen schon einmal sexuell belästigt gefühlt – rund 89 Prozent allein durch anzügliche Bemerkungen und Kommentare. Auch unerwünschte körperliche Berührungen oder angegafft zu werden hat ein Großteil der Frauen schon erlebt. Aber auch Männer werden Opfer von sexueller Belästigung – laut der Studie rund 55 Prozent. 

„Er dachte, es sei ein Rollenspiel“​

Sexueller Missbrauch ist die schwerwiegendste Form physischer Belästigung. Doch geschieht dies nicht nur nachts im Park. In Juleens Fall wurde der eigene Freund zum Täter. Die 19-Jährige ist nach eigener Aussage in ihrer ersten Beziehung mehrfach vergewaltigt worden. „Ich wusste nicht, was normal war und was nicht. Ich dachte, das gehört zu einer Beziehung dazu.“

Noch heute wird Juleen von Flashbacks aus der Vergangenheit eingeholt. „Ich fange an zu zittern, wenn Gedanken an damals aufkommen.“ Angezeigt hat sie ihren Exfreund nicht. Während die Taten für ihn also keine Konsequenzen haben, fällt es Juleen schwer, körperliche Nähe zuzulassen und emotionale Bindungen einzugehen. Schrittweise verarbeitet sie, was in der Beziehung vorgefallen ist. „Es war schwer, mir einzugestehen, dass ich missbraucht worden bin. Dadurch wurde es real.“

Indem Juleen ihre Erfahrung teilt, möchte sie andere zu Aussagen motivieren. „Personen, denen ich davon erzählt habe, waren häufig überrascht. Sie hätten ihm das gar nicht zugetraut, da er jünger ist als ich.“ Der 19-Jährigen liegt es am Herzen diesen Stigmen des sexuellen Missbrauchs entgegenzuwirken.

Es kann schneller passieren, als man denkt.

Juleen

Im vergangenen Jahr wird Juleen erneut Opfer sexueller Belästigung, als sie in einem Club feiern geht. Wieder ist es ein ehemaliger Klassenkamerad, der sie gegen ihren Willen an sich drückt und küsst. „Später fasste er mir noch an den Hintern, während seine Freunde ihn dafür bejubelten.“ Noch im Club stellt Juleen den Mitschüler zur Rede. „Ich sagte ihm, dass das nicht rechtens sei und er mich sexuell belästigt habe. Er rollte nur mit den Augen und stritt es ab.“ Juleen entschließt sich, nicht mehr zu schweigen. Sie erstattet Anzeige – mit Erfolg. Der Täter wird mit einem Bußgeld von 400 Euro bestraft, welches er an eine Opferhilfe spenden muss. „Ich weiß nicht, was für eine Strafe angemessen gewesen wäre. Man kann meine Erfahrung nicht mit Geld messen“, sagt Juleen.

Foto: Markus Spiske/Unsplash

Catcalls of Hannover: Lange Warteliste

Das Team von Catcalls of Hannover besteht mittlerweile aus rund 25 Menschen. Die Warteliste für Ankreidungen ist lang, auf Instagram bekommen sie sehr viele Geschichten zugesendet. Damit die Erfahrungen schnell an die Öffentlichkeit kommen, posten sie zweimal am Tag auf Instagram. Alle sind mit großem Engagement dabei. Eine Ankreidung dauert mal 20 Minuten, mal eine Stunde. „Es sind mal locker anderthalb Stunden die Woche dafür weg, aber es ist schön, dass wir so viel Unterstützung haben, weil dadurch die Belastung kleiner wird“, sagt Lucie.

Wenn Catcalls of Hannover ankreiden gehen, kehren sie oft an den Ort des Geschehens zurück. Sexuelle Belästigung ist in einer Großstadt wie Hannover keine Seltenheit und kann überall passieren. Egal ob am helllichten Tag in ruhigen Stadtgebieten oder mitten in der Nacht im Partyviertel. Trotzdem gibt es einige Hotspots. „Es ist Fakt, dass wir besonders viel am Hauptbahnhof unterwegs sind“, sagt Lucie. Auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln sei sexuelle Belästigung ein Problem. Eine Lösung sei dort allerdings nicht in Sicht, sagt Lucie. „Wir können da leider nicht viel machen. Mit der Deutschen Bahn haben wir noch keine Kooperation erreichen können.“

Von der fertigen Ankreidung wird ein Instagram-Post erstellt. Foto: Saskia-Janice Dralle

Die Sache mit der Finanzierung​

Trotz allen Engagements ist das Ankreiden für die Aktivisten und Aktivistinnen vor allem in anderen Städten eine Frage der Finanzierung. Kreide, Merchandise und Sticker werden oft aus der eigenen Tasche bezahlt. Die Gruppe in Hannover ist finanziell dagegen gut aufgestellt – sie hat bei einem Preisausschreiben des Bundes eine dreistellige Summe gewonnen. Die Catcalls-Bewegung ist gerade auf dem Weg, ein eingetragener Verein zu werden. Dann gehen alle Spenden über das Vereinskonto an alle deutschen Kollektive. „Man kriegt aber auch mal von einem Rentner ein Stück Kuchen oder einen Zehner zugesteckt“, sagt Lucie lachend.

„Ich liebe es, wenn du mir zu Füßen liegst“​

Belästigung ist kein Phänomen, das nur auf der Straße und im Privaten auftritt. Jede zehnte Frau hat bereits sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Das ergab eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2018. Zwar werden Beschäftigte im Dienstleistungssektor tendenziell häufiger und vor allem durch Kunden belästigt, dennoch kann sexuelle Belästigung an jedem Arbeitsplatz passieren – unabhängig von der Branche und der Größe des Unternehmens.

Die 20-Jährige Natalie wurde schon mehrmals Opfer von sexueller Belästigung im Rahmen ihres Jobs. Bis vor Kurzem absolviert sie die Praxisstunden ihres dualen Studiums in einem Fitnessstudio. Dort bringt sie die Kundschaft als Personaltrainerin ordentlich ins Schwitzen. Viele nutzen die Trainingszeit für private Gespräche und vertrauen sich der jungen Frau an. Natalie handhabt solche Konversationen professionell und bewahrt Distanz. „Ich habe das Gefühl, dass besonders im sportlichen Bereich schnell Grenzen überschritten werden und die Interessen der Kunden über das Berufliche hinausgehen.“

Den ersten Kontakt mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz macht die Studentin mit einem Mann mittleren Alters. Während sie die gemeinsamen Trainingseinheiten zunächst als locker und lustig empfindet, fallen ihr nach einiger Zeit zunehmend obszöne Blicke auf. „Ich fühlte mich unwohl, bestimmte Übungen vorzuzeigen oder die Ausführung an ihm zu korrigieren, da ich ihm körperlich nicht so nahe sein wollte.“ Da Natalie ihre Pflichten als Trainerin nicht vernachlässigen möchte, versucht sie, das unangenehme Gefühl zu ignorieren. Sie redet sich ein, sie hätte die Blicke bestimmt falsch verstanden.

Jede zehnte Frau hat bereits sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt. Foto: Saskia-Janice Dralle

Doch es hört nicht auf. Während einer Trainingseinheit korrigiert Natalie bei einer Übung die Beinstellung ihres Klienten. „Er sagte zu mir: Ich liebe es, wenn du mir zu Füßen liegst", erzählt sie. "Ich war in dem Moment so perplex. Ich habe nicht mit einer solchen Äußerung gerechnet.“ Wieder fragt sich Natalie, ob sie seine Worte vielleicht missverstanden hat, doch bei den folgenden Malen kommt es zu ähnlichen Aussagen. „Im Nachhinein habe ich oft darüber nachgedacht, ob diese Situationen durch den offenen, fast schon freundschaftlichen Umgang entstanden sind, den ich mit vielen Mitgliedern gepflegt habe.“

"Du hast aber einen schönen Knackarsch"

Einige Monate später schließt Natalie mit einem Neukunden nach einem ersten Probetraining erfolgreich ein Verkaufsgespräch ab. Der Mann, den sie trainiert, scheint anfangs sehr sympathisch zu sein. Doch schon beim zweiten Training äußert er sich anstößig über ihren Körper: „Du hast aber einen schönen Knackarsch.“ „Auf einmal zerbrach mein dazugewonnenes Selbstbewusstsein“, erzählt Natalie. Doch sie unternimmt nichts – auch weil sie Angst hat, dem Unternehmen zu schaden oder dadurch Mitglieder zu verlieren.

Bist du eigtl. Single?

Betroffene gehen oft nicht zum Vorgesetzten. Dabei brauchen sie keine Angst zu haben, ihren Job zu verlieren. Arbeitgeber dürfen Betroffene nicht mundtot machen, indem sie mit Kündigung oder Abmahnung drohen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verpflichtet Unternehmen dazu, für ein sicheres Arbeitsumfeld frei von Belästigungen zu sorgen. Betroffene können außerdem ihre Arbeit verweigern oder Anspruch auf Entschädigung erheben, sollte der Betrieb nichts gegen die Situation unternehmen.

Natalie beschäftigt sich tagelang mit der Frage, ob sie vielleicht selbst falsche Zeichen vermittelt hat. Sie entscheidet sich, nicht gegen die Männer vorzugehen. „Ich weiß, dass viele Frauen mit dieser Art von Belästigung zu kämpfen haben. Ich redete die Geschehnisse herab und dachte mir, dass ich im Gegensatz zu anderen Frauen noch verschont geblieben bin.“

Screenshot: Natalie

Letztendlich verlässt sie das Unternehmen. Über Instagram schreibt ein Kunde sie an, mit dem sie in der Vergangenheit immer gern trainiert hat. Er lobt Natalie für ihre Arbeit und zunächst freut sie sich darüber, dass man sich auch nach ihrer Kündigung an sie erinnert. „Nach einem kleinen Austausch wurde er jedoch sehr konkret und fragte mich nach meinem Beziehungsstatus. Die Wortwahl und Emojis machten seine Intention deutlich.“ Natalie vermutet mittlerweile hinter jedem Kompliment eines Mannes Hintergedanken. Ihr fällt es schwer, mit Komplimenten umzugehen und Lob anzunehmen. „Es macht mich traurig, dass diese Männer nicht meine Kompetenzen anerkannt haben, sondern mich stattdessen als ein begehrenswertes Objekt wahrgenommen haben.“

Der Bystander-Effekt​

Unter dem sogenannten Bystander-Effekt versteht man das Nicht-Handeln von Augenzeugen bei Unfällen und Übergriffen, wenn weitere Umstehende anwesend sind. Viele warten hier auf den ersten Schritt einer anderen Person oder befürchten, sie könnten die Dringlichkeit der Situation falsch einschätzen und sich blamieren, wenn sie Hilfe leisten. Je mehr Menschen anwesend sind, desto geringer wird die Bereitschaft zu helfen, denn falls die Situation wirklich ein Notfall wäre, hätte sich jemand anderes schon längst eingeschaltet.

Doch es gilt: Lieber einmal zu viel eingreifen als einmal zu wenig. Das zeigen auch bekannte Fälle wie der der US-Amerikanerin Kitty Genovese, auf dem die Untersuchungen zum Bystander-Effekt – oder auch Genovese-Syndrom genannt – basieren. Sie wurde auf offener Straße vergewaltigt und ermordet. Die Nachbarn blieben während des Überfalls vermeintlich untätig.

Nicht wegschauen

Auf die Frage, wie man auf Belästigung und Catcalling reagieren sollte, gibt es keine universelle Antwort. „Ich rate den Leuten immer dazu, sich selbst in Sicherheit zu bringen – das ist das Wichtigste in der Situation“, sagt Lucie von Catcalls of Hannover. „Schlagfertig zu reagieren und sich mit Sprüchen verbal zu wehren würde natürlich jede betroffene Person gerne können. Daran misst sich aber nicht, ob man richtig oder falsch reagiert hat. Es gibt kein Richtig oder Falsch.“ Lucie findet es viel wichtiger, die Situation vorerst zu analysieren: „Ist es nachts? Bin ich alleine? Ist das hier eine dunkle Gasse? Steht neben mir ein Polizist, den ich potenziell ansprechen könnte? Kann ich Passanten um Hilfe bitten?“ All diese Faktoren haben Einfluss darauf, welche Reaktion schlussendlich geeignet ist. Sinnvoll ist es, Passanten gezielt anzusprechen, wenn diese nicht eingreifen.

Ihre Waffe: Kreide. Foto: Saskia-Janice Dralle

Sexuelle Belästigung, körperliche Übergriffe und Gewalt passieren überall. Umso wichtiger ist es, nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, sondern etwas dagegen zu tun. Eine Möglichkeit für Frauen sind Selbstverteidigungskurse, um sich gegen physische Attacken wehren und ruhiger durch die Straßen gehen zu können. Die Lösung für das Problem liegt jedoch nicht bei den Betroffenen – Schuld haben die Täter.

Solltest du jemals in eine Situation geraten, in der du dich unwohl fühlst – egal ob online oder im echten Leben: Zögere nicht, dir Hilfe zu suchen. Zeige Straftaten bei deiner lokalen Polizeibehörde an oder lasse dich bei Hilfestellen beraten, zum Beispiel beim Hilfetelefon für Gewalt gegen Frauen unter 0800 0116 016.

Von Saskia-Janice Dralle, Lena Kunitz, Anna Schellhase, Helena Wilmerding


Über den Autor/die Autorin:

MADS-Team

Unter diesem Namen sammeln wir Beiträge von Gastautorinnen und -autoren, Autorenkollektiven oder freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei MADS. Die Namen des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin stehen unter dem einzelnen Beitrag.

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