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Weniger Stress: Achtsamkeit als Schulfach

Weniger Stress: Achtsamkeit als Schulfach
Foto: Getty Images

In einer hessischen Schule stehen neuerdings Achtsamkeit und Körperwahrnehmung auf dem Stundenplan. In diesen „stillen Pausen“ sollen die Schüler lernen, wieder zu sich selbst zu finden.


Integralrechnung, lateinische Deklinationen oder das Periodensystem: Das meiste Schulwissen hat man schnell wieder vergessen, im Alltag ist es selten von Nutzen. Wirklich etwas fürs Leben lernen, da sind sich die Experten einig, könnten Schüler, wenn man ihnen beibringt, sich selbst besser zu verstehen – durch Achtsamkeitstraining und Psychoedukation. Ein hessisches Gymnasium macht vor, wie das gehen könnte.

Einfache Techniken ab Klasse fünf

Die Elisabethenschule in Frankfurt setzt auf das Konzept Achtsamkeit in der Schule (AISCHU), das von der Pädagogin Vera Kaltwasser entwickelt wurde. Das Ganze startete 2004 als Pilotprojekt. „Inzwischen sind Achtsamkeitsübungen fest in unserem Schulprogramm verankert“, sagt Lehrerin Patricia Wilcke. Pro Klasse gibt es mindestens einen Lehrer, der geschult ist und ein solches Training in seinen Unterricht integriert. Manche Übungen sind simpel: Die Schüler versuchen etwa, fünf Minuten lang im Stehen ausschließlich auf ihren Atem zu achten oder bei geschlossenen Augen Geräusche in der Umgebung wahrzunehmen. Ab und zu widmet Wilcke der Achtsamkeit eine ganze Unterrichtsstunde, macht geführte „Fantasiereisen“ mit den Schülern, bei denen diese sich schöne Orte vorstellen, oder körperorientierte Qigong-Übungen.

Stress in der Schule

Viele Schüler leiden unter Stress – das ist inzwischen mehrfach bewiesen worden. Laut einer Studie der Krankenkasse DAK Gesundheit fühlen sich 43 Prozent der Schulkinder gestresst und klagen über Kopf- und Rückenschmerzen, Schlafprobleme oder Panikattacken. Wie die Untersuchung aus dem Jahr 2017 zeigt, sind die Gründe dafür unterschiedlich: Manche Mädchen und Jungen tun sich schwer, dem Leistungsdruck standzuhalten und haben Angst vor schlechten Noten. Andere wiederum fühlen sich in ihrer Klasse nicht wohl, sind einsam oder leiden unter Mobbing. Fakt ist: Für viele Schüler ist Schule eine Belastung.
Nicht immer ist ein Schulwechsel an dieser Stelle die erste Wahl: Vielmehr sollte in Gesprächen herausgefunden werden, was der Auslöser für die Sorgen des Kindes ist. Häufig sind nicht nur ein, zwei ungeliebte Lehrer schuld, oft sind es auch die Eltern, die bewusst oder unbewusst Druck auf das Kind ausüben. Dann gilt es, sich als Erziehungsberechtigte erst einmal selbst zu hinterfragen

Beim Spiel „Achtsamer Dialog“ werden Karten mit Bildern ausgeteilt, jeder beschreibt einem anderen Schüler seine Assoziationen. Der Gesprächspartner hört zu und gibt dann wieder, was der erste gesagt hat. „Häufig kommunizieren Menschen, ohne sich zu verstehen“, sagt Wilcke. Ihre Schüler sollen sich darin üben, dem Gegenüber mehr Aufmerksamkeit zu schenken – aber auch darin, besser auf sich selber zu achten. „Man könnte es auch Meditation nennen“, sagt Wilcke, „aber das vermeiden wir, das hat so einen esoterischen Touch. Wir sprechen eher von ‚stillen Pausen‘.“

Einfache Techniken werden ab der fünften Klasse vermittelt. „Bei älteren Schülern wird das Ganze mit Theorie unterfüttert und geht stärker in Richtung Psychoedukation“, sagt Wilcke. In der Oberstufe lernen die Gymnasiasten zum Beispiel verstehen, wie und warum der Körper auf Stress reagiert – mithilfe der Grundlagen von Biologie und Neurophysiologie.


Auch im Sportunterricht wird Körperwahrnehmung trainiert. Quelle: iStock/Leonis

Besserer Umgang, mehr Konzentration

„Die Schüler sollen lernen, sich selbst emotional zu regulieren“, sagt Wilcke. „In Zeiten von Handy, Whatsapp und Social Media sind sie der ständigen Reizüberflutung ausgesetzt und kommen selten zur Ruhe.“ Einige Schüler sind daher zunächst überfordert, wenn sie sich bei Achtsamkeits- und Atemübungen einfach nur auf sich selbst konzentrieren sollen. „Die meisten genießen es aber – wenn es auch nur der Moment der Stille ist, der guttut.“ Im Sportunterricht übt Wilcke außerdem mit den Schülern die Progressive Muskelentspannungnach Jacobsen (PME), die die Körperwahrnehmung schult.

Die Auswirkungen des ganzen Programms seien absolut positiv, sagt Wilcke: „Wir Lehrer merken, wie gut es den Schülern tut. Sie haben einen ganz anderen Umgangston, sind achtsamer mit sich selbst und anderen, können sich besser konzentrieren.“ Eine Auswertung, die Wilcke selbst zusammen mit Wissenschaftlern der Hochschule Coburgvorgenommen hatte, deutete ebenfalls auf gute, wenn auch statistisch noch nicht signifikante Effekte des Projekts hin. Womöglich sei die Untersuchung dafür zu klein angelegt gewesen, so die Autoren.

Wäre es also sinnvoll, AISCHU flächendeckend einzuführen? Über das Schulamt Frankfurt wird eine einjährige Weiterbildung für Lehrer angeboten, die auch Wilcke absolviert hat, die Nachfrage ist groß.

Meditation birgt auch Risiken

Meltem Avci-Werning ist Bundesvorsitzende der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband deutscher Psychologen. Module zu Achtsamkeit und Psychoedukation in allen Schulen in den Unterricht einzuflechten wäre durchaus sinnvoll, sagt sie. Man könne dadurch die psychische Stabilität und Gesundheit der Schüler fördern, Stress und Prüfungsangst abbauen. „Es gibt jede Menge Untersuchungen dazu, dass das nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch das Lernen und die Konzentration fördert. Allerdings müssen die Lehrer wirklich gut geschult sein. Man kann da nicht einfach mit Youtube-Videos arbeiten.“

Ein Grund dafür seien die Risiken, die es selbst bei Meditationsübungen gibt. In seltenen Fällen nämlich könnten diese starke emotionale Reaktionen auslösen, die es aufzufangen gelte: „Es kann immer sein, dass Schüler in Ruhemomenten auch unangenehme Gedanken bekommen. Als Lehrer sollte man wissen, wie man reagiert, wenn jemand zum Beispiel bei einer Achtsamkeitsübung in Tränen ausbricht.“

Zudem findet das Ganze während der Unterrichtsstunden statt. Ist das bei vollen Lehrplänen keine Zeitverschwendung? Im Gegenteil, findet Avci-Werning: „Die Schüler können dadurch konzentrierter arbeiten und Angstblockaden bei Prüfungen überwinden. Unter dem Strich schaffen sie dadurch in weniger Zeit sogar mehr.“

Von RND / Irene Habich


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