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Warum das Aufwachsen auf dem Dorf gar nicht so öde ist

Warum das Aufwachsen auf dem Dorf gar nicht so öde ist
Foto: unsplash.com/Boer Boudewijn

Anders als die Helden in der Dokureihe „Jugendland“ blickt MADS-Autorin Sarah wehmütig auf ihre Jugend auf dem Land zurück – denn Provinz verbindet.


Schwach reflektieren die weißen Mittelstreifen im Mondlicht. Drum herum ist es so dunkel, dass ich meine Füße nicht sehen kann. Denn um Mitternacht erlischt das Licht der Laternen. Freunde und ich, wir schlendern mitten über die Hauptstraße. Vielleicht ist es der Rückweg von einer Hausparty, bestimmt nehmen wir immer wieder einen Schluck aus Flaschen mit minzig-süßen Biermixgetränken. So genau weiß ich das nicht mehr. Nach mehr als einem Jahrzehnt ist die Erinnerung verblasst. In einigen Hundert Metern Entfernung leuchtet eine Ampel rot, kurz gelb, dann grün. Völlig egal, die Ampel und wir, denn Autos fahren hier um diese Uhrzeit sowieso nicht.

Frei und eingeengt zugleich

Das Leben auf dem Land vereint zwei Widersprüche: sich frei und gleichzeitig eingeengt fühlen. Dreht man die Anlage auf, stört man damit niemanden. Die Nachbarn wohnen weit genug weg, nicht eine Etage tiefer. Allerdings sind sie doch nah genug dran, um ständig über den Zaun schielen zu können. Die soziale Kontrolle hat mich mit jedem Jahr mehr erdrückt. Direkt nach dem Abi zog ich aus dem niedersächsischen Dorf in die nächste Großstadt. Ich liebe die Anonymität hier – aber meine Heimat aus der Distanz noch immer.

Jeder Dritte will aufs Land

Laut ARD-Studie wollen 38 Prozent wollen auf dem Land leben
Foto: Unsplash.com/Julian Hochgesang

Nur jeder fünfte Deutsche will so wie ich in einer Großstadt wohnen. Das hat die ARD in einer Umfrage herausgefunden. 40 Prozent bevorzugen die Kleinstadt, 38 Prozent wollen auf dem Dorf leben. Manche Familien ziehen aufs Land, damit die Kinder fernab der hastigen Stadt inmitten von Wald und Wiese aufwachsen. Verständlich. Als Kind strolchte ich mit meinem Opa durch den Wald und fing Frösche. Je nach Jahreszeit beschmissen wir Kinder uns mit Wasserbomben oder Schneebällen. An jeder Ecke, unter jedem Blatt, gibt es etwas zu entdecken. Und damit man bei Erkundungstouren nicht verloren geht, passt das ganze Dorf mit auf.

Doch als Teenager begann mich die Gemeinschaft zu nerven. Es ist nämlich schwierig, sich abzugrenzen und eigene Werte zu entwickeln, wenn man beim Schützenfest immer nur die „Tochter von“ ist. Meine Familie lebt seit mehreren Generationen im gleichen Dorf. Die Geschichten, die meine Großeltern und Eltern erlebt haben, waren immer mit meiner verwoben. Menschen hatten noch nie mit mir gesprochen, aber dachten doch, genau zu wissen, wie ich ticke. Denn sie kannten schließlich meine Oma oder meinen Vater.

Dass Dorfbewohner gern tratschen, stimmt absolut. Doch abseits davon hat es Vorteile, dass jeder jeden kennt. Denn man hilft sich gegenseitig. Einer repariert das Fahrrad, ein anderer verleiht seine Bierbänke für die Lagerfeuerparty. Uns fehlten zwar die Clubs und Bars – nicht aber die Räume zum Beisammensein und Feiern. Wir tanzten unter dem Sternenhimmel auf Wiesen. Wir tranken süß-sauren Schnaps in Gartenhütten. Und wir quatschten nächtelang in unseren Zimmern.

Keine Langeweile

Statt bei Konzerten oder in Cafés prosteten sich viele von uns im Feuerwehrhaus mit Limonade oder Bier zu. Ich kenne kaum jemanden, der nicht wenigstens in einem Sportverein Bällen hinterherhechtete. „Die Vereinsstruktur ist auf dem Land so einzigartig, weil dort soziales Leben stattfindet“, sagte Sozialwissenschaftler Armin Küchler dem Deutschlandfunk. Tennistraining, Musikunterricht und Zeltfete am Wochenende: Wer aktiv am Dorfleben teilnimmt, langweilt sich nicht.

Kein Wunder also, dass laut einer Studie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft 90 Prozent der Landbewohner angeben, mit ihrer Wohnsituation zufrieden zu sein. Mir kam der Dorfalltag mit seinen Schützenvereinen, Kegelabenden und festen Cliquen irgendwann aber nicht mehr geregelt, sondern reglementiert vor. Deshalb bin ich gegangen.

Mittlerweile komme ich sehr gern wieder. Wenn ich vorbei am Kindergarten über den Marktplatz Richtung Wald spaziere, kleben an jeder Ecke Erinnerungen. Nicht alle sind schön. Aber dank ihnen entwickelte ich mich zu dem, was und wie ich bin.

Vor allem erinnere ich mich an die Menschen, die ich in einer so wichtigen Phase des Lebens geliebt, geschätzt, aber auch gehasst habe. Das Heranwachsen ist die Zeit der großen Gefühle. Und die Jugend auf dem Dorf verbindet. Wer Teil dieser Gemeinschaft ist, bleibt es ein Leben lang. Vielleicht hatten wir als Teenager nicht so viel Abwechslung wie in der Stadt. Aber wir hatten uns.

Von Sarah Franke


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