Verpflichtendes soziales Jahr: Sinnvoll für die Gesellschaft oder zusätzliche Belastung für die Jugend?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fordert ein verpflichtendes soziales Jahr für Jugendliche. MADS-Autor Tim findet den Vorschlag gut und sieht für alle Seiten Vorteile. Tara sieht das genau umgekehrt.
Pro: Ein soziales Jahr ist eine wertvolle Erfahrung
Zuerst möchte ich klarmachen: Ich kann viele Argumente gegen ein verpflichtendes soziales Jahr nachvollziehen. Es wäre schöner, wenn die Politik jungen Menschen Anreize für ein freiwilliges Jahr dieser Art geschaffen hätte. So wirkt es auch auf mich, als sollten Probleme wie der Personalmangel in der Pflege kostengünstig durch Jugendliche gelöst werden. Ich kann es auch ein bisschen nachvollziehen, wenn junge Menschen klarmachen, dass vor allem sie sich in der Zeit der Corona-Pandemie einschränken mussten und ihnen so zwei Jahre ihres Lebens „gestohlen“ wurden. Der Zeitpunkt des Vorschlags ist auf jeden Fall sehr ungünstig gewählt.
Trotzdem finde ich, dass bei solchen Argumenten wichtige Punkte vergessen werden: Auch wenn es nicht der richtige Weg ist, könnten viele Pflegekräfte durch die Hilfe von Jugendlichen entlastet werden, wenn das Vorhaben richtig umgesetzt wird – für mich ist das die Hauptsache. Außerdem finden so vielleicht mehr Jugendliche Gefallen an der Arbeit und ziehen eine Ausbildung in der Pflege in Betracht. Das Argument, man würde jungen Menschen dadurch ein Jahr „stehlen“, entkräften verschiedene Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Helfen anderer Menschen und erhöhter Zufriedenheit nachweisen konnten. Ich glaube, dass so ein soziales Jahr nicht nur den bedürftigen Personen hilft, sondern auch den jungen Menschen.
MADS-Autor Tim Klein (23) Foto: privat
Ich habe selber zwar kein soziales Jahr nach der Schule gemacht (und bereue das), als Waldorfschüler musste ich jedoch ein sogenanntes Sozialpraktikum absolvieren. Gemeinsam mit einer Freundin habe ich geflüchtete Menschen in ihrem Alltag betreut. Die ganze Klasse berichtete im Nachhinein von größtenteils positiven Erfahrungen und wie gut es tat, anderen zu helfen.
Ein weiterer Aspekt ist das gesellschaftliche Miteinander. In einem Interview mit MADS berichtete Jugendforscher Simon Schnetzer, dass viele junge Menschen die Zukunft Deutschlands als schlecht bezeichneten und Angst vor dem Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts hätten. Hinzu kommt, dass junge und alte Menschen außerhalb ihrer Familie kaum Berührungspunkte zueinander haben. Ein soziales Jahr wird die Ängste und die Fremde nicht auf magische Weise in Luft auflösen, kann aber ein Schritt in Richtung mehr Zusammenhalt sein.
Falls dieses Vorhaben durchgesetzt wird, kommt es vor allem auf das „wie“ an. In diesem Fall sollte von Anfang an mit Jugendlichen kommuniziert werden: Was würden sie sich in so einem Jahr wünschen? Was sind die Bedenken? Diese Kommunikation könnten bekannte Persönlichkeiten, die bei Jugendlichen beliebt sind, unterstützen. Der Comedian Felix Lobrecht und der Autor Tommi Schmitt haben beispielsweise in ihrem Podcast „Gemischtes Hack“ schon oft von ihren positiven Erfahrungen des sozialen Jahres berichtet. Auch Parameter wie Bezahlung und Dauer des Engagements könnten gemeinsam mit Jugendlichen festgelegt werden – schließlich sollen junge Menschen nicht bestraft werden.
Contra: Ein Zwang zum sozialen Jahr hilft keiner Seite
Dass Klatschen am Fenster die Probleme in der Pflegebranche nicht gelöst hat, wird spätestens jetzt klar, wo über ein verpflichtendes soziales Jahr diskutiert wird. Statt so eines Jahres müssten jedoch die Probleme an der Wurzel bekämpft werden. Die Politik müsste Vieles verändern, um soziale Berufe wirklich attraktiver zu machen. Denn Anreize zu schaffen, dass man freiwillig einen solchen Beruf ausübt, ist langfristig die bessere Lösung, als Menschen zu zwingen. Aber scheinbar reichen auch Pandemien und Krisen nicht dabei aus, um das zu verstehen.
Auch wenn sich das soziale Jahr in manchen Punkten theoretisch gut anhört, geht es in der Praxis dann eben oftmals darum, die unfreiwilligen Helfer als billige Arbeitskräfte auszunutzen. Jugendliche zu diesem Dienst zu zwingen und das als bereichernd und solidarisch zu verkaufen, während gleichzeitig jahrelang im Sozialsektor gespart wurde, erscheint mir alles andere als solidarisch der jungen Generation gegenüber. Gerade während der Corona-Krise mussten Jugendliche genug Solidarität zeigen und auf ihre Pläne und Wünsche verzichten. Dann sollten sie zumindest nach ihrem Schulabschluss frei entscheiden können, was sie wirklich machen wollen. Das Recht auf Selbstbestimmung sollte man in dieser Diskussion nicht außer Acht lassen.
MADS-Autorin Tara Yakar (18) Foto: privat
Natürlich kann ein soziales Jahr zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen und den ein oder anderen langfristig in den sozialen Berufszweig bringen, aber mal ehrlich: Ein freiwilliges soziales Jahr ist nicht für alle geeignet – und das ist auch okay so. So unterschiedlich wie wir Menschen sind, gibt es viele Wege sich persönlich weiterzuentwickeln und vielleicht einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Menschen, die bereits wissen, dass sie nicht in den sozialen Berufszweig gehen werden, weil sie es entweder partout nicht wollen, oder schlichtweg vielleicht auch ungeeignet sind, aufgrund gewisser Persönlichkeitszüge, sollten akzeptiert werden. Zwingt man so jemanden hingegen zu einem sozialen Jahr, kann man sich vorstellen, auf welche Weise dieser Dienst ausgeübt wird, und davon profitiert weder der Jugendliche, noch die Einsatzstellen.