Queeres Klassenzimmer: Wenn LGBTQ+ an der Schule Thema wird
Rund elf Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland identifizieren sich als Teil der LGBTQ+-Community. Wie groß ist das Thema an Schulen? Ein Besuch bei der Queer-AG der Goetheschule in Hannover.
Schulen sind Orte der Vielfalt. Doch Vielfalt der Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen ist nicht überall präsent. „Ich denke, dass queere Leute ziemlich allein gelassen werden. Wir werden einfach ins kalte Wasser geworfen und müssen irgendwann alles selbst herausfinden. Und deswegen finde ich, dass queere Leute mehr wahrgenommen und mehr ernst genommen werden sollten in unserer Gesellschaft.“ Alex ist 14 Jahre alt und queer. Alex benutzt die Neopronomen dey/dem statt geschlechtsspezifischer Pronomen wie sie oder er. Alex besucht die siebte Klasse des Gymnasiums Goetheschule in Hannover.
Dey/Dem
ist ein sogenanntes Neopronomen, welches das Sprechen über eine genderneutrale Person ermöglichen soll.
Alex glaubt, dass frühe Aufklärung viele Probleme ersparen würde. Schließlich identifizieren sich laut dem Deutschen Jugendinstitut rund 11 Prozent der befragten 14- bis 29-Jährigen in Deutschland als lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich oder queer. Doch inwiefern kann und muss das Thema Queerness an Schulen behandelt werden? Die Antwort der Goetheschule: eine Queer-AG als Safe Space für queere Schülerinnen und Schüler.
Und Alex‘ Erfahrung zeigt: Nicht nur queere Jugendliche haben Interesse am Thema „geschlechtliche und sexuelle Vielfalt“, sondern auch andere Klassenkameraden und Kameradinnen. Doch die Möglichkeit, sich damit in der Schulzeit auseinanderzusetzen, gibt es nach Alex‘ Erfahrung kaum. So würde Unwissenheit zu Respektlosigkeit und Missverständnissen führen, sagt Alex.
Jenseits der Heteronormativität: Queere Themen im Schulunterricht
An der Goetheschule sei sexuelle Vielfalt schon im Werte- und Normenunterricht präsent, führen die Lehrerinnen und Betreuerinnen der Queer-AG, Sarah Halagan und Patricia Kabus, aus. In der Klassenstufe neun, wenn die Themen Liebe, Freundschaft und Sexualität auf dem Lehrplan stehen, gehen sie beispielsweise auch auf Homosexualität und Pansexualität ein. Der Aspekt Transgender werde zudem in der neunten Klasse beim Thema Identität besprochen. Gemeinsam haben sie an einer Schulung zum Thema Vielfalt teilgenommen. „So versuchen wir, die Kinder ein wenig zu sensibilisieren. Auch, wenn es nicht der eigenen Sexualität entspricht, wollen wir das Verständnis vermitteln, dass andere sie so ausleben, wie sie diese eben fühlen“, sagt Kabus. Ihre Kollegin Halagan meint: „Es ist wichtig, dass auch Betroffene eine Stimme kriegen. Und das geht häufig über Filme.“
Wie die Jugendlichen das Thema annehmen, sei kursabhängig. Die einen hätten Vorurteile und lehnten das Thema ab, andere wiederum würden viel Interesse mitbringen. Die Abneigung liege zum Teil auch daran, dass das Thema zu Hause gar nicht oder sehr negativ besprochen werde. Die Erfahrung der beiden Lehrerinnen zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler nach der Einheit meist positiv aus dem Unterricht gehen. „Alle nimmt man nie mit. Aber ich glaube, dass man viele dafür begeistern kann. Es ist ja auch super interessant, wie vielfältig die Menschheit ist“, erläutert Kabus.
Wie vielfältig die Menschheit ist, wird auch im kleinen Kreis klar – die Queer-AG des Gymnasiums ist ein Raum des Austauschs, der Sicherheit und der Sichtbarkeit. Ihre Projekte überlegen sich die Schülerinnen und Schüler am Anfang des Schuljahres selbst. So haben sie bereits Briefe an Lehrkräfte geschrieben, um diese im Umgang mit genderqueeren Jugendlichen zu sensibilisieren. Zudem planen sie Aktionen und gestalten die Queer-Vitrine mit Infos zu queeren Promis und Serien und Buchtipps. „Wenn man eine Klasse hat oder eine Familie, die einen vielleicht nicht so akzeptiert, wie man ist, kann man herkommen und sich hier einfach frei fühlen“, sagt Sara, die ebenfalls Teil der Queer-AG ist.
Die AG ist Öffentlichkeitsarbeit und Selbsthilfegruppe in einem und verfolgt ein klares Ziel: „Einfach zu zeigen, es gibt queere Menschen, es gibt sie auch an dieser Schule. Da einfach die Awareness schaffen“, sagt Kabus.
Aber nicht nur queere Kinder und Jugendliche können an der AG teilnehmen. „Grundsätzlich haben wir die AG für alle geöffnet, die Interesse an dem Thema haben. Jede oder jeder kann, aber muss sich nicht outen“, sagt Kabus. Auch gibt es keine Altersbegrenzung – vom fünften bis zum Abi-Jahrgang können alle mitmachen.
Eine Errungenschaft der AG: die Divers-Toilette, extra für genderqueere Schülerinnen und Schüler. Früher hatten sie einen Schlüssel für die barrierefreien Toiletten auf Anfrage bekommen. „Das war zwar eine Lösung, aber keine gute“, kommentiert Alex. Nun gebe es eine Toilette für alle, die von der Cisgender-Heteronormativität abweichen.
Cisgender-Heteronormativität
bezeichnet eine Gesellschaft, in der davon ausgegangen wird, dass es nur zwei angeborene Geschlechter gibt und sich diese nur gegenseitig, also heterosexuell, aufeinander beziehen.
„Ich würde schon sagen, dass die Toilette für gute Aufmerksamkeit sorgt. Zum Beispiel gehen die Lehrkräfte im Sportunterricht jetzt eher auf die Frage nach einer extra Umkleide ein.“
Alex, 14 Jahre
Die Divers-Toilette wird aber nicht von allen richtig genutzt. „Ich habe gesehen, dass ein paar aus meiner Klasse gesagt haben, sie identifizieren sich jetzt als Junge, und auf die Divers-Toilette gehen. Aber halt nur für höchstens fünf Minuten als Spaß“, erzählt ein Schüler aus der Queer-AG. „Das war respektlos.“
Queere Bildungswende: Buntere Lehrpläne gegen Vorurteile
Um Respektlosigkeit vorzubeugen, sei frühe Aufklärung in Schulen wichtig. Der Verein SCHLAU Niedersachsen begründet dies damit, dass Schule ein „diskriminierungsanfälliger Raum“ sei und deswegen möglichst früh mit Prävention begonnen werden müsse. Das ehrenamtliche Netzwerk leistet unter anderem mit Workshops für Schulen Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit zu geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen. Auch um queere Jugendliche zu ermutigen, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten, sei es wichtig, „einen reflektierten und wertschätzenden Umgang mit dem Thema“ zu finden.
Im Moment sei es schulabhängig, ob und in welchem Umfang Queerness im Unterricht und auch darüber hinaus behandelt wird. Während einige Schulen das Thema intensiv durch Projekttage, Workshops und Queer-AGs behandeln, ihre Lehrkräfte durch Fortbildungen schulen oder queere Beratungsangebote anbieten, gebe es auch Schulen, welche das Thema nur kurz anschneiden oder es sogar unterbinden. „Insgesamt lässt sich sagen, dass die Präsenz des Themas Queerness mit engagierten Lehrkräften steht und fällt. Da es in den Lehrplänen nur stellenweise beziehungsweise am Rande vorgesehen ist, liegt es meistens in der Verantwortung der einzelnen Schulen, hier aktiv zu werden. Wenn dann niemand an der Schule arbeitet, dem oder der das Thema am Herzen liegt, dann ist es schlichtweg unsichtbar“, sagt Alexander Altevoigt, Vorstandsmitglied von SCHLAU Niedersachsen.
Immer öfter bemühen sich Schulen auch um das Projektlabel „Schule der Vielfalt“. Das ist ähnlich wie „Schule ohne Rassismus“ eine Initiative, die Schulen dabei unterstützt, Mobbing aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlicher Identität vorzubeugen. Um „Schule der Vielfalt“ zu werden, müssen sich die Bildungseinrichtungen aktiv mit dem Thema auseinandersetzen und zum Beispiel Kontaktpersonen für queere Personen benennen können, Fortbildungen für Lehrkräfte ermöglichen und das Thema im Unterricht und Schulalltag einbringen.
SCHLAU Niedersachsen unterscheidet drei Ebenen, auf denen sich zukünftig etwas ändern muss. Auf Landesebene müsse „queere Bildung als Querschnittsanliegen verstanden werden“. Das heißt, dass das Thema nicht nur in einer Unterrichtseinheit abgehandelt werden könne, sondern ein nachhaltiges Ziel während der Schullaufbahn sein sollte. Dafür bräuchte es vor allem sensibilisierte und geschulte Lehrkräfte. Als zweites müssten auch die regionalen Unterschiede bei der Finanzierung queerer Bildungsprojekte reduziert werden. „Wir sind davon überzeugt, dass Landkreise und Städte als Schulträger und Verantwortliche der kommunalen Jugendarbeit in der Pflicht sind, Präventionsarbeit wie die von SCHLAU finanziell zu ermöglichen“, sagt Altevoigt. „Manche Kommunen haben das erkannt und stellen bereits eine gute Förderung zur Verfügung, in anderen Städten oder Landkreisen wird queere Bildung allerdings gar nicht gefördert.“ Dies könne nicht nur durch das große ehrenamtliche Engagement abgefedert werden.
Schließlich müsse es „verbindliche, diskriminierungsfreie und praktikable Lösungen für zum Beispiel Geschlechtseintragsänderungen“ geben. Aktuell gebe es noch viel Unwissenheit und Irrglauben an Schulen. Wie verhält es sich mit Namen, Pronomen oder Toiletten für trans oder intergeschlechtliche Jugendliche? Kann ich den neuen Namen auf dem Zeugnis nutzen? Im Moment hilft SCHLAU den Schulen durch eine Infobroschüre zu dem Thema.
Weil Alex in der eigenen Klasse sehr viele Fragen dazu bekommen hat, welche Ansprache andere nutzen sollten, wurde in der Queer-AG ein Plakat zum Thema „Nicht binär“ gestaltet. Dafür hat Alex Interviews mit anderen genderqueeren Personen geführt. Die Reaktionen auf das Plakat waren gemischt. Einigen Mitschülern und Mitschülerinnen hat es geholfen, andere hätten sich laut Alex gar nicht die Zeit genommen, um das Plakat aufmerksam zu lesen.
Nicht binär/Nonbinär/Genderqueer
bezeichnet eine Person, die sich nicht dem Zwei-Geschlechtersystem aus Mann und Frau zuordnen kann beziehungsweise möchte. Also Menschen, welche sich sowohl als Frau als auch als Mann (gleichzeitig oder abwechselnd) oder weder als Frau noch als Mann identifizieren.
Bildung für Vielfalt: Zwischen Fortschritt und Widerstand
Die Frage, inwiefern Kinder und Jugendliche überhaupt mit dem Thema LGBTQIA+ konfrontiert werden sollten und inwieweit es in Schulen thematisiert werden sollte, ist aktuell immer wieder präsent in den Medien. Erst im Mai wurde heftig darüber diskutiert, ob eine Drag-Queen-Lesung für Kinder ab vier Jahren in München stattfinden sollte oder nicht. Während die Veranstaltenden mit der Lesung für „Identität und Diversität“ stehen wollen, sehen Kritikerinnen und Kritiker eine nicht altersgerechte Vermittlung von sexualisierten Themen.
LGBTQIA+
ist die Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, trans, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen. Das Plus steht für die Inklusion weiterer Sexualitäten und Identitäten.
Alex sieht das anders: „Wir lernen ja sehr früh auch über Heteronormativität, und dann finde ich, dass man wenigstens das Thema aufbringen könnte, dass Homosexualität, Bisexualität, Transidentität und so weiter existieren. Damit man sich dann schon früher wohler und auch nicht so alleine fühlen kann.“
Ein anderes Signal sendet Niedersachsen. Hier dürfen Schulen seit Kurzem die Regenbogenflagge hissen – ein Projekt, das auch die Queer-AG in Zukunft an der Goetheschule noch anstoßen möchte. Das aktuelle Projekt der Queer-AG ist eine queere Filmnacht. „Ich habe am Anfang irgendwie zehn Projekte aufgeschrieben, jetzt sind wir langsam beim Letzten angekommen. Wir können also bald schon wieder brainstormen und ich sehe schon, dass es viele neue Ideen gibt“, sagt Lehrerin Halagan.
Die Queer-AG ist ein Safe Space für engagierte Jugendliche und bekommt viel positives Feedback an der Goetheschule. „Es ist ja auch politisches Engagement, was hieraus erwächst. Und das finden wir auf jeden Fall sehr schön zu sehen, dass Menschen für sich einstehen, für Mitmenschen einstehen, egal ob man selbst betroffen ist oder nicht“, sagt Kabus. Sie und ihre Kollegin hoffen, dass die Queer-AG noch lange Bestand hat und weiterhin viele Schülerinnen und Schüler für die Vielfalt der Menschen begeistern kann.
Angebote für queere Jugendliche gibt es in ganz Niedersachsen. Auf dieser Karte vom Queeren Netzwerk Niedersachsen findet ihr Jugendgruppen und ähnliche Veranstaltungen.
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Beim kostenlosen Kinder- und Jugendtelefon wird dir auch bei den Themen sexuelle Identität und Vielfalt geholfen.
Text: Johanna Ahlsleben & Leonie Rother
Fotos: Liv Meyer-Berhorn
Audios: Lisa Brendel
Grafiken: Anne Paggel
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