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Geflüchtete aus Afghanistan: „Uns Frauen wurde jede Freiheit genommen“

Geflüchtete aus Afghanistan: „Uns Frauen wurde jede Freiheit genommen“
Foto: Marion Eckstein

Vor genau zwei Jahren, am 15. August 2021, übernahmen die Taliban in Afghanistan die Macht. Saina Hamidi flüchtete wenig später nach Deutschland – aus Angst vor dem autoritären Regime. Im MADS-Interview spricht die 27-Jährige über ihre Flucht, die Unterdrückung der Frauen in ihrer Heimat und ihre Wünsche für die Zukunft.


Saina, du bist 2021 aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Was waren die Umstände?

Das war eine schlimme Zeit. Vor zwei Jahren haben die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen. Es war wie in einem Albtraum. Egal ob Männer, Frauen oder Kinder, alle hatten Angst. Vor allem wir Frauen hatten aber Angst, nie wieder Teil der Gesellschaft werden zu können, weil wir wussten, wofür die Taliban stehen. Es herrschte Chaos im Land. Es war unbeschreiblich beängstigend. Einige Zeit zuvor hatte uns die Nachricht erreicht, dass die Taliban nach Kabul kommen. Wir haben aber nicht damit gerechnet, dass es so schnell geht. Darauf waren wir nicht vorbereitet.

Wie hast du auf die Machtübernahme reagiert?

Ich war schockiert und hatte Angst. Einen Tag zuvor ist mein Sohn per Kaiserschnitt zur Welt gekommen, von der Machtübernahme habe ich von meiner Ärztin im Krankenhaus erfahren. Eigentlich brauchte ich viel Ruhe, war aber kurz nach der Geburt wieder draußen.

Ich habe zu der Zeit als psychologische Beraterin bei Medica Afghanistan, der afghanischen Partnerorganisation von medica mondiale, gearbeitet. Wir haben uns für Frauenrechte eingesetzt, Aufklärungsarbeit geleistet und Frauen begleitet, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Meine Kolleginnen waren genauso schockiert wie ich, viele haben häufig geweint. Unsere Arbeit war uns sehr wichtig, die Angst, das zu verlieren, war groß. Außerdem waren alle unsere Freiheiten in Gefahr. Die Taliban verbieten Frauen, aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen. Und wir haben als Frauen anderen Frauen geholfen, wir mussten deshalb besonders vorsichtig sein. Wir mussten dann beispielsweise plötzlich Burkas tragen, da die Taliban jederzeit in unsere Büros hätten kommen können. Außerdem mussten viele Frauen Angst davor haben, zwangsverheiratet zu werden. Ich selbst habe meine Beiträge auf Instagram und Facebook gelöscht aus Angst, die Taliban könnten diese sehen.

„Meine Mutter hat einmal gesagt, dass sie mit Krieg aufgewachsen ist, mit Krieg leben wird und während des Krieges sterben wird.“

Saina Hamidi

Wie hast du vor der Machtübernahme der Taliban gelebt?

Wir haben auch vor der Machtübernahme in Angst gelebt und wussten immer, dieser Tag kann kommen. Trotzdem hatte ich ein schönes Leben. Ich hatte eine eigene Wohnung und eine Arbeit, die mir gefallen hat. Es war besser, aber nicht perfekt. Ich bin schon mit Geschichten über Krieg und die Taliban aufgewachsen. Meine Mutter hat einmal gesagt, dass sie mit Krieg aufgewachsen ist, mit Krieg leben wird und während des Krieges sterben wird. Nachdem die Taliban die Macht übernahmen, haben meine Eltern gesagt, dass ich mit meinem Mann und meinem Sohn aus Afghanistan fliehen muss.

Wie ist deine Flucht abgelaufen?

Mein erster Fluchtversuch ist gescheitert. Also war ich noch vier Monate nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Wir mussten uns darum kümmern, dass mein Sohn einen Pass bekommt. Die Behörden haben nach der Machtübernahme kaum funktioniert. Als ich dann einen Pass für meinen Sohn kaufen konnte, bin ich mit ihm und meinem Mann mithilfe von medica mondiale nach Pakistan geflohen, von da ging es weiter nach Deutschland. Ich bin medica mondiale extrem dankbar dafür, viele hatten dieses Glück nicht.

Saina Hamidi ist 27 Jahre alt und lebt seit ihrer Flucht aus Afghanistan in der Nähe von Frankfurt. Sie ist gelernte Psychologin und hat als psychologische Beraterin bei Medica Afghanistan gearbeitet. Saina ist Mutter eines bald zweijährigen Kindes. Ihr Sohn war nur einen Tag alt, als die Taliban die Macht übernahmen. Heute lernt Saina mit anderen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen von Medica Afghanistan an der Frankfurt University of Applied Science. Dort haben sie mit Unterstützung von medica mondiale eine Weiterbildung belegt, weil ihre Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden. In Afghanistan hat sich Saina für Frauenrechte eingesetzt: Unter anderem hat sie Frauen psychologisch begleitet, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, Mädchen über Menstruation aufgeklärt und Videos produziert, um über sexualisierte Gewalt zu informieren. Jetzt möchte Saina in Deutschland über die Lage der Frauen in Afghanistan aufklären.

Wie war deine Anfangszeit in Deutschland?

Es war so anders als in Afghanistan. Ich dachte manchmal, dass ich träume und nach meinem Kaiserschnitt einfach noch nicht aufgewacht bin und alles gar nicht echt ist. Ich habe vier Monate nur in Angst gelebt, ich konnte nichts machen. Meine Arbeit hat mir so viel bedeutet, mich für andere Frauen einzusetzen ist mir so wichtig. Das zu verlieren hat wehgetan. Hier bin ich in einem freien Land und kann wieder anderen helfen. Ich kann wieder wie ein vollwertiger Mensch leben und ich bin sicher, das ist das Wichtigste für mich. Die Sprache war am Anfang sehr überfordernd, ich dachte, ich werde es nie schaffen, Deutsch zu lernen. Aber es wird immer besser, jetzt kann ich meine Gefühle ausdrücken und meine Geschichte erzählen. Außerdem kann ich dank medica mondiale wieder studieren, derzeit mache ich eine Weiterbildung an der Frankfurt University of Applied Science. Mein Abschluss in Psychologie wird in Deutschland nämlich nicht anerkannt.

Außerdem bist du noch Aktivistin. Wie sieht dein Engagement aus?

In Afghanistan habe ich Aufklärungsarbeit für Frauen geleistet. Unter anderem habe ich ein kleines Buch geschrieben, das junge Frauen über Menstruation aufklärt und sie vorbereitet. Auch im Fernsehen habe ich darüber gesprochen. Diese Arbeit war schwierig, weil Menstruation in Afghanistan ein Tabuthema ist, über das man nicht sprechen soll. Ich wollte jungen Frauen aber helfen und ihnen deutlich machen, dass es etwas ganz Normales ist, für das sie sich nicht schämen müssen. Dafür habe ich aber auch viele Hassnachrichten bekommen.

Außerdem habe ich mit anderen Frauen ein Fernsehprogramm produziert. Das hieß „Woman Power“, und wir haben versucht, andere Frauen in Afghanistan zu erreichen und sie zu motivieren, für ihre Rechte zu kämpfen. Mit Medica Afghanistan haben wir auch mit Frauen gearbeitet, die keine Schulbildung bekommen haben. In Deutschland unterstütze ich jetzt die Arbeit von medica mondiale und unterstütze ehrenamtlich Frauen, die aus Afghanistan geflüchtet sind. Viele haben Traumatisches erlebt, und wir versuchen, ihnen zu helfen.

Foto: Marion Eckstein

Was wünschst du dir in Zukunft für Afghanistan?

Für Afghanistan wünsche ich mir Frauenrechte. Uns Frauen wurde jede Freiheit genommen. Die Taliban sehen uns nicht als vollwertige Menschen an, wir dürfen nichts lernen, nicht richtig arbeiten und nicht an der Gesellschaft teilnehmen. Mädchen dürfen nur bis zur siebten Klasse in die Schule gehen. Das darf nicht sein. Ich wünsche mir Unterstützung aus anderen Ländern der Welt, um Frauenrechte wiederherzustellen. Doch unter den Taliban geht es nicht nur Frauen schlecht. Kaum jemand hat Arbeit, es herrscht große Armut. Viele Frauen waren die einzige Person mit Arbeit in ihrer Familie. In solchen Familien verdient jetzt niemand mehr Geld, das ist schrecklich für sie.

„Auch das Leben in Deutschland ist nicht immer leicht, aber wenn es geht, möchte ich hier bleiben“

Saina Hamidi

Möchtest du in Zukunft in Deutschland bleiben?

Ich persönlich möchte in Deutschland bleiben und nicht mehr zurück nach Afghanistan. Wie gesagt, auch vor der Machtübernahme der Taliban haben wir in Angst gelebt. Das hinterlässt Spuren, das kann ich an meinen Eltern sehen, aber auch an mir. Ich habe hier mehr Freiheiten. Ich habe in Afghanistan Journalismus studiert und musste darum mit meiner Familie kämpfen. Sogar meine Mutter wollte das nicht. Ich war die Beste meines Jahrgangs und musste das Studium trotzdem abbrechen. Ich habe aber gemerkt, dass ich mit dem Psychologiestudium mehr Menschen helfen kann. Ich bin froh, das auch hier in Deutschland weiterführen zu können.

Auch das Leben in Deutschland ist nicht immer leicht, aber wenn es geht, möchte ich hier bleiben. Hier kann ich etwas für Frauen tun. Ich darf meine Meinung laut sagen, in Afghanistan darf ich das nicht. Manchmal habe ich Angst, dass ein Anruf kommt und meine Familie und ich zurück nach Afghanistan müssen.

Interview: Tim Klein


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Über den Autor/die Autorin:

1 Kommentar

  1. Johannes Reinders

    Ich bin ehrenamtlich Betreuer von 20 jungen geflüchteten Frauen. Davon sind 6 aus Afghanistan, denen ich in ihrer Entwicklung geholfen habe. 5 von Ihnen sagen „Papa“ zu mir, 2 Afghaninnen sind inzwischen fertige Krankenschwestern, eine ist noch in der Ausbildung zur Krankenschwester, zwei sind Altenpflegehelferinnen. Die Freundschaft mit allen ist unproblematisch und vertrauensvoll.

    Falls es Afghaninnen gibt, die ebenso betreut werden möchten, habe ich im Gebiet zwischen Ludwigsburg und Pforzheim ab August Zeit-Kapazitäten frei. Es beginnt mit der Qualifizierung der Sprache und allen Problemen,
    die z.B. mit Behörden und Wohnungen anfallen und der Integration. Ich war 4 Jahre Betreuer in einem Jugendheim für geflüchtete minderjährige Afghanen. Aus dieser Erfahrung habe ich beschlossen, nur Mädchen und Frauen zu betreuen, weil sie ihre Ziele erreichen WOLLEN, während Jungs dies nur MÖCHTEN.

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