Dysfunktional und düster: MADS empfiehlt die besten Roman-Dystopien
Eine Dystopie ist eine in der Zukunft spielende Geschichte, die eine erschreckende Gesellschaftsordnung oder gesellschaftliche Entwicklung darstellt. Wer sich beim Lesen mal wieder in düstere Zukunftsvisionen mit tapferen Protagonisten und Protagonistinnen entführen lassen will, dem empfiehlt die MADS-Redaktion eine Auswahl passender Romane.
„Vollendet“ – Neal Shusterman (2007)
Nach einem zweiten amerikanischen Bürgerkrieg, einem äußerst blutigen Konflikt über die ethischen Implikationen von Abtreibungen, wurde in den Vereinigten Staaten ein neues Gesetz erlassen. Die „Charta des Lebens“ besagt, dass das menschliche Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum Erreichen des 13. Lebensjahres unantastbar ist. Ein ungewolltes oder schwieriges Kind kann jedoch im Alter zwischen 13 und 18 Jahren rückwirkend abgetrieben werden. Während dieser sogenannten Umwandlung wird das Kind künstlich am Leben gehalten und dabei in seine Einzelteile seziert.
Shustermans düstere Geschichte spielt sich einige Jahre nach diesen Ereignissen ab, und die Umwandlung ist inzwischen eine gängige Praxis in der Gesellschaft. Der 16-jährige Connor befindet sich auf seinem Weg in ein Erntecamp, wo ihn dasselbe Schicksal erwartet wie so viele unglückselige Kinder seiner Generation. Es gelingt ihm jedoch, zu fliehen und dabei auch zwei weitere Jugendliche zu befreien. Gemeinsam nehmen sie den Kampf auf gegen ein korruptes System und seine erbarmungslose Jugendbehörde. In einer Welt, die sie bereits zum Tode verurteilt hat, werden sie immer wieder vor moralische Herausforderungen gestellt.
Shusterman erzählt aus verschiedenen Perspektiven und gibt hin und wieder auch den Bösewichten eine Stimme und ein Motiv. Während die Freunde um ihr Leben kämpfen, scheint der Albtraum, mit dem diese Dystopie ihre Leserschaft konfrontiert, mit jeder Seite schlimmer zu werden. „Vollendet“ ist der Beginn einer fesselnden Reihe und in jedem Fall zu empfehlen – nicht aber ohne eine freundliche Warnung vor Kapitel 61.
Von Myron Christidis
„Oryx und Crake“ – Margaret Atwood (2003)
Genetische Manipulation, soziale Ungleichheit und eine rapide voranschreitende Umweltzerstörung: Margaret Atwoods Roman „Oryx und Crake“, erstmals veröffentlicht im Jahr 2003, verknüpft diese Themen zu einem ebenso faszinierenden wie erschreckend realistischen Zukunftsbild. Die Geschichte begleitet Snowman, einst Jimmy, der als letzter Überlebender in einer post-apokalyptischen Welt umherirrt. In Rückblenden enthüllt er die tragischen Entwicklungen: Crake, ein brillanter Wissenschaftler und Jimmys Freund, verfolgte die utopische Vision einer perfekten Welt. Seine Experimente führten jedoch zu einer Katastrophe, die die Menschheit an den Rand der Auslöschung brachte. Atwood zeigt eine Gesellschaft, die erschreckend vertraut wirkt. Themen wie die Gier der Konzerne und die Manipulation der menschlichen DNA werden auf die Spitze getrieben. Atwoods Dystopie wird zur Mahnung: Was passiert, wenn wissenschaftlicher Fortschritt keine ethischen Grenzen kennt?
Der erste Teil von Atwoods „MaddAddam“-Science-Fiction-Trilogie ist eine Warnung an derzeitige und zukünftige Generationen, die nachdenklich zurücklässt. Mit scharfsinnigen Analysen und poetischer Kraft fordert die Autorin auf, Verantwortung gegenüber der Umwelt und den kommenden Generationen zu übernehmen. Dabei erschafft sie eine Welt, die lange nachhallt.
Von Annika Koch
„Blue Ticket“ – Sophie Mackintosh (2020)
Sobald die erste Periode einsetzt, muss Calla zum Zentrum fahren. Es ist der Ort, an dem sie erfährt, ob die Gesellschaft für sie in der Zukunft die Mutterrolle vorsieht oder nicht. Jede junge Frau bekommt dort nach jahrelanger therapeutischer Beobachtung ihr Ticket: Ein weißes Ticket bedeutet, dass du eine Mutter wirst und zukünftig heiraten und Kinder bekommen musst. Bei einem blauen Ticket ist dies den Frauen verwehrt. So versucht die Regierung, die Geburtenrate zu kontrollieren, aber natürlich geht es auch um patriarchale Kontrolle über den weiblichen Körper. Calla bekommt ein blaues Ticket, mit dem sie jedoch bald nicht mehr zufrieden ist. Wer hat in einer Gesellschaft das Recht auf Mutterschaft? Warum werden Frauen angefeindet, wenn sie sich frei gegen Kinder entscheiden?
„Blue Ticket“ ist mehr als ein interessantes Gedankenexperiment. Wem Calla vertrauen kann und ob weibliche Solidarität in der Dystopie existiert, in der sie lebt, erfahren Lesende zugleich mit ihr, denn der Roman ist nahbar aus der Ich-Form erzählt.
Von Lisa Neumann
„Numbers“ – Rachel Ward (2010)
Als Jugendbuch-Reihe bereits in den 2010er-Jahren erschienen, erzählt „Numbers“ von einem London und England in naher Zukunft. Jem ist besonders, denn sie kann das Todesdatum anderer Personen in ihren Augen sehen. Im vom Klimawandel bedrohten und politisch Richtung Diktatur abdriftenden England ist dies eine Gabe, die ihr spätestens dann zum Verhängnis wird, als sie und ihr Freund Spinne vom London Eye wegrennen, kurz bevor dort ein Terroranschlag stattfindet. Von nun an sind beide auf der Flucht vor den Behörden, die auf keinen Fall von Jems Gabe wissen dürfen.
In drei spannenden Bänden erzählt Rachel Ward Jems Geschichte – ihre Flucht und auch, wie sie sich doch noch in Spinne verliebt. Die Reihe ist ein wahrer Page-Turner. Von Seite zu Seite fiebert man mit der Protagonistin, die unter ihrer Einsamkeit und ihren Aggressionen leidet und keineswegs dem Klischee des lieben Mädchens entspricht.
Von Lisa Neumann
„Die Traumdiebe“ – Cherie Dimaline (2020)
Es ist nicht das Setting, dass die Dystopie „Die Traumdiebe“ der Kanadierin Cherie Dimaline so bemerkenswert macht. Die Natur hat den Kampf gegen den anthropologischen Klimawandel verloren und ist nach einer dramatischen Kette von Ereignissen stark geschädigt. Die wenigen Menschen, die all die Strapazen, den ausgebrochenen Krieg und die Seuchen überlebt haben, sind verroht und verzweifelt. Nur, dass sich dies im Kanada der nahen Zukunft ganz besonders schrecklich äußert. Da ein Großteil der Bevölkerung verlernt hat, zu träumen, greift diese nun in ihrer Not auf eine neue „Ressource“ zurück: das Knochenmark der indigenen Bevölkerung. Denn diese kann noch träumen und ein aus ihrem Mark gewonnenes Mittel soll die Traumlosigkeit heilen können.
Was sich anhört wie eine grausame Fantasy-Erzählung, wirft dafür zu viele Parallelen zu Kanadas realer kolonialer Historie auf. Zu vertraut sind die „Recruiters“, die die Menschen gnadenlos jagen und in die „Schulen“ stecken.
Es ist eine Geschichte der Flucht, aber auch der Hoffnung und des Zusammenhalts. Sie begleitet den indigenen Jungen Francis und seine bunt zusammengewürfelte Familie aus anderen Verfolgten auf ihrem Kampf ums Überleben. Geschrieben von einer Autorin aus der indigenen Gruppe der Métis, fängt das Buch perfekt die Einzigartigkeit der indigenen Mythologie, Lebensphilosophie und Verhaltensweisen auf. Und das macht es in einem Genre, das häufig wenig Platz für Repräsentation lässt, zu einem echten Glücksgriff.
Von Filine Hunger
„Legend“ – Marie Lu (2011)
Los Angeles, 2130. Der Westen der früheren USA ist heute „Die Republik“, und die 15-jährige June ist ihr Wunderkind. Als Einzige erreichte sie im „Großen Test“ die Höchstpunktzahl und steht nun vor ihrem Universitätsabschluss. Danach soll sie Soldatin werden wie ihr älterer Bruder Metias. Anders der 15-jährige Day: Er fiel bei dem Test durch, konnte jedoch den tödlichen Konsequenzen entkommen. Seitdem führt er ein Leben auf der Straße, als meistgesuchter Verbrecher der Republik. Eines Nachts wird June unsanft geweckt. Ihr Bruder ist von Day ermordet worden. Sie soll ihn aufspüren, um Metias zu rächen. Zufällig trifft sie Day, als er sie nach einem Straßenkampf rettet. Ohne zu wissen, dass sie eigentlich Feinde sind, entwickeln sie Gefühle füreinander. Als June jedoch seine wahre Identität entdeckt, liefert sie ihn an die Behörden aus. Aber nach seiner Verhaftung kommen ihr Zweifel, auch an der Republik selbst.
In der „Legend“-Reihe wird die Geschichte sowohl aus Junes als auch Days Perspektive geschildert. Die sympathischen Charaktere werden dadurch noch nachvollziehbarer, bleiben aber durch ihre Fehler und inneren Konflikte auch immer menschlich und realistisch. Auch wenn die Themen wie Unterdrückung, Verrat, Revolution und Liebe nicht neu sind, so sind sie mit viel Spannung und auch emotional gut eingearbeitet, und die Reihe hält einige unerwartete Wendungen bereit. Besonders interessant ist auch der Aspekt der Narrativkontrolle und ihrer Folgen. Insgesamt ist es eine mitreißende Geschichte mit angenehmem Schreibstil.
Von Fenja Lehmann
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