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ADHS im Erwachsenenalter: „Ich würde mir mehr Verständnis wünschen“

ADHS im Erwachsenenalter: „Ich würde mir mehr Verständnis wünschen“
Foto: Luis Villasmil/Unsplash

Die Diagnose ADHS erhielten lange nur Kinder. Doch mittlerweile ist klar – die Störung verwächst sich nicht im Erwachsenenalter. Tim (18) berichtet von seinen Erfahrungen mit ADHS in der Schule und im Job.


Tim hat ADHS. Bereits in der zweiten Klasse wurde das von seinem Psychiater diagnostiziert, noch heute leidet er unter den Symptomen. „Besonders in meiner Schulzeit habe ich die schlimmsten Erfahrungen in Zusammenhang mit meinem ADHS gemacht“, sagt er. Heute macht Tim eine Ausbildung zum Industriekaufmann.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Etwa zwei bis sechs Prozent von ihnen leiden laut Bundesgesundheitsministerium unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit. Lange wurde ADHS ausschließlich als Problem im Kindesalter betrachtet, doch heute weiß man, dass es sich nicht im höheren Alter verwächst.

ADS oder ADHS?

Zunächst unterscheiden sich ADS und ADHS. Während ADS ein Aufmerksamkeitsdefizit beschreibt, handelt es sich bei ADHS um eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Zu den Hauptsymptomen zählen bei ADHS Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, während bei ADS die Hyperaktivität geringer ausgeprägt ist. Insbesondere bei Mädchen äußert sich die Störung weniger durch Hyperaktivität, sondern mehr durch innere Unruhe, weshalb ADHS bei Mädchen seltener oder erst viel später erkannt wird. Bei der Stoffwechselkrankheit im Gehirn ist das Gleichgewicht der sich dort befindlichen Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin verändert. Informationen können nicht richtig verarbeitet werden, dadurch werden Reize nur bedingt gefiltert, was zu Ablenkung und Überforderung führt.

Ich war wie ein Roboter, acht Jahre lang wie betäubt.

Tim (18)

Direkt nach seiner Diagnose war Tim in medikamentöser Behandlung, sein Kinderarzt verschrieb ihm das Medikament Medikinet, das ebenso wie Ritalin den Wirkstoff Methylphenidat enthält. Mithilfe seiner stimulierenden Wirkung sollte das Medikament Tims Konzentrationsfähigkeit in der Schule steigern. Tim wurde vom Durchschnittsschüler zum Einserkandidat. „Aber ich war wie ein Roboter, acht Jahre lang wie betäubt“, erzählt er. Besonders seine sozialen Fähigkeiten litten unter den Nebenwirkungen des Medikaments. Er habe manchmal für eine halbe Stunde regungslos und ohne Emotionen auf der Stelle gesessen und kaum Kontakt zu mit Gleichaltrigen gehabt. In der zehnten Klasse setzte Tim das Medikament ab und begab sich in psychologische Behandlung. Derzeit basiert diese standardmäßig auf medikamentöser Therapie und Psychotherapie. Tim spricht aus Erfahrung: „Was ich auf keinen Fall empfehlen kann, ist, nur Medikamente zu nehmen, ohne dabei in psychologischer Therapie zu sein.“

Foto: privat

Laut Forschungen des Universitätsklinikums Tübingen führen die verfügbaren Medikamente etwa bei einem Drittel der Erwachsenen zu keiner zufriedenstellenden Besserung der Symptome oder bringen Nebenwirkungen mit sich. Auch Tim hat nach mehreren Versuchen noch immer kein neues, für ihn passendes Medikament gefunden. Dennoch befindet er sich heute im ersten Lehrjahr seiner Ausbildung als Industriekaufmann und arbeitet in einem Großraumbüro. „Bei der Arbeit hilft es mir, kurze Pausen einzuplanen, um beispielsweise Kaffee zu holen. Aber auch die Möglichkeit des gelegentlichen Rückzugs in einzelne Telefonzimmer erleichtert mir das Arbeiten.“ Im Alltag plant Tim mehr Zeit ein. Allein auf dem Weg zum Bäcker ist er sich bewusst, dass meist etwas schiefgeht, er zum Beispiel etwas vergisst.

„Im Berufs- und im Privatleben erreichen Erwachsene aufgrund dieser Symptome oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten, was bei vielen einen starken Leidensdruck erzeugt“, heißt es auf dem ADHS-Infoportal des Universitätsklinikums Köln. „Sie vergessen Termine, halten Absprachen nicht ein, verzetteln sich ständig und es gelingt den Betroffenen häufig nicht planvoll bei einer Sache vorzugehen.“

Führt ADHS zu Einschränkungen in der Lebensqualität?

Tim würde in seinem konkreten Fall trotzdem nicht von einer eingeschränkten Lebensqualität sprechen. „Ich würde nicht unbedingt einschränken, sondern eher verändern sagen.“ Auf der einen Seite sei der Umgang mit ADHS sehr anstrengend. Es sei eben nicht allein, dass man sich nach fünf Stunden Arbeit nicht mehr konzentrieren kann. Alltagssituationen werden zur Herausforderung. „Ich muss alles mit vollem Bewusstsein machen, ansonsten hätte ich am Morgen das Hemd wahrscheinlich falsch herum und die Hose auf links an.“ Auf der anderen Seite gibt es auch Nebenwirkungen, die Tim als praktisch empfindet, wie die Ausprägung von Interessen. „Jetzt gerade bin ich total begeistert von den Inseln im Ärmelkanal und möchte alles über sie herausfinden.“ Ein weiterer Vorteil sei der sogenannte Hyperfokus. Der Begriff beschreibt im Zusammenhang mit ADHS einen nicht selektiv steuerbaren, Flow-ähnlichen Zustand erhöhter Konzentration. Er wurde erstmals von dem US-amerikanischen ADHS-Experten Russel Barkley verwendet. Ein Hyperfokus kurz vor Abgabefristen sei sehr praktisch, um Zeit zu sparen, meint Tim.

Der Umgang mit ADHS in der Gesellschaft

Im Umgang mit Betroffenen läuft laut Tim leider noch nicht alles ideal. „Ich würde mir mehr Verständnis wünschen“, sagt er. Gerade in der Schule und in der Arbeitswelt müsse mehr an Menschen mit ADHS gedacht werden. „Vielleicht braucht es nicht immer unbedingt Großraumbüros.“ Auch gezielte Pausen seien sinnvoll, denn drei Stunden Konzentration am Stück könnten ja selbst für nicht betroffene Menschen anstrengend werden.

Auf Social Media hingegen wird das Thema ADHS immer präsenter. Auf Tiktok und Co. boomen die Selbstdiagnosen geradezu. „Ich finde es ehrlich gesagt manchmal ein bisschen lustig, wie die Leute denken“, erzählt Tim. Es sei eben nicht alles, was mit geringer Konzentrationsfähigkeit zu tun hat, automatisch ADHS. Dennoch erkennt Tim ein gewisses Potenzial. Denn vielleicht ermögliche Social Media auch manchen Menschen, schneller zu realisieren, dass sie von ADHS betroffen sein könnten. Dennoch gilt: ADHS ist eine klinische Diagnose. Wer den Verdacht hat, ADHS zu haben, sollte sich von einem Facharzt untersuchen lassen – muss sich jedoch leider auf lange Wartelisten einstellen.

Von Hanna Korte


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Über den Autor/die Autorin:

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