Aktivismus als Vollzeitjob: Vier Engagierte berichten
Immer mehr junge Menschen engagieren sich in ihrer Freizeit für soziale Zwecke. Doch wie ist es eigentlich, wenn das Engagement zum Vollzeitjob wird? Vier Menschen berichten von ihrem Aktivismus.
Der Mann aus den Bäumen
Flo, genannt Flummi, hat in den vergangenen drei Jahren mehr Zeit in Baumhäusern als in Wohnungen verbracht. Das begann 2018 im Hambacher Forst, als er seinen Job in einer Berliner Schule aufgab, um sich der Waldbesetzung anzuschließen. Inzwischen lebt der 31-Jährige in Lützerath. Das Dorf liegt am Rande des Tagebaus Garzweiler. Der Energiekonzern RWE will es abbaggern, um Braunkohle zu fördern. Die Initiative „Lützi lebt“ versucht, den Konzern zu stoppen, indem sie das Dorf besetzt.
Zur Besetzung eines Dorfes gehört vor allem viel Haushaltsarbeit. Flummi baut Baumhäuser, kocht, macht den Abwasch und reinigt mit der „Shit Brigade“ die Toiletten. Als Mitglied der Medien-AG kümmert er sich außerdem um die Social-Media-Kanäle und spricht mit Journalistinnen und Journalisten. Seit Kurzem gibt es auch Workshops mit Namen wie „Sich-Anketten“ oder „Bagger besetzen leicht gemacht“. Lützeraths Zukunft ist ungewiss, die Aktivistinnen und Aktivisten rechnen bald mit einer Räumung. Die Vorstellung, dass das Dorf fällt, beunruhigt den 31-Jährigen aus mehreren Gründen. „Einerseits will ich unbedingt verhindern, dass die Braunkohle unter Lützi gefördert und damit noch mehr CO2 ausgestoßen wird“, meint Flummi. „Andererseits ist Lützi auch mein Zuhause.“
Flummi beschreibt das Dorf als einen Ort, an dem vom Baumhausbau bis zum Patriachat über alles diskutiert wird, an dem Entscheidungen basisdemokratisch getroffen werden und man abends zusammen vorm Lagerfeuer sitzt. Um sich diese Utopie leisten zu können, muss Flummi sie allerdings immer wieder verlassen. Für seinen Nebenjob in einer Unterkunft für Menschen auf der Flucht pendelt er zwischen Lützerath und Berlin. „Vorher habe ich im Supermarkt gearbeitet und Getränkekisten geschleppt“, berichtet er. „Damals war meine finanzielle Situation sehr prekär.“
Was nach Lützerath kommt, weiß Flummi noch nicht. Vielleicht schließt er sich einer anderen Besetzung an. Vielleicht konzentriert er sich aber auch auf sein Studium der Sozialen Arbeit.
Die Koordinatorin
Ein normaler Tag beginnt für Annika an ihrem Laptop. E-Mails schreiben, Telefonate führen, Texte lesen. Oberflächlich ähnelt ihr Alltag dem von zahllosen anderen 24-Jährigen. Doch Annika sitzt nicht wegen eines Studiums oder eines Jobs vor dem Bildschirm. In ihren Mails geht es um die Klimakrise, ihre Texte sind Pressemitteilungen von Protesten. Annika ist Vollzeitaktivistin der Klimagerechtigkeitsbewegung. Besonders viel engagiert sie sich bei Fridays For Future.
Ihre Rolle beschreibt sie als die einer Koordinatorin. Annika organisiert Demonstrationen und Protestaktionen, außerdem steht sie in engem Kontakt zum besetzten Dorf Lützerath. 2020 brach sie ihr Studium für Nachhaltiges Wirtschaften in Bonn ab, um sich ganz auf den Aktivismus zu konzentrieren. „Ich habe in den Vorlesungen gar nicht mehr zugehört, sondern war nur noch am Handy, um Aktivismus zu machen“, erzählt sie. „Als ich das Studium abgebrochen habe, ist ein großes Gewicht von mir abgefallen.“ Doch auch ohne ihr Studium hat Annika viel zu tun. Oft arbeitet sie bis drei Uhr morgens. Inzwischen hat sie sich wieder an der Uni eingeschrieben, um BAföG zu beziehen. Doch ihr 25. Geburtstag steht vor der Tür, mit ihm fallen das Kindergeld und auch die Krankenversicherung über die Eltern weg.
„Ich mache das nicht für Geld oder Anerkennung“, stellt Annika klar. Sie hat das Gefühl, kämpfen zu müssen. „Wenn man einmal verstanden hat, wie viel schiefläuft, ist es schwer, einfach nichts zu tun“, erklärt sie. Doch auch weiterzumachen ist nicht einfach. Annikas Leben ist begleitet von Unsicherheiten und vielen Fragen: Wird Lützerath standhalten? Wird die nächste politische Krise die Klimakatastrophe weiter beschleunigen? Und: Wie lange kann sie sich ihren Aktivismus noch leisten?
Der Praktikant
Für Erik begann alles mit der „heute-show“. In seiner Kindheit sah der heute 20-Jährige oft mit seiner Mutter fern. Die „heute-show“ und die „Tagesschau“ gehörten zu ihren Lieblingssendungen. Dort, auf dem Sofa neben seiner Mutter, liegt der Ursprung zu seinem Aktivismus, meint Erik. Heute lebt er in Darmstadt und ist dort auch in der Uni eingeschrieben. Doch im Hörsaal trifft man ihn eher selten. Stattdessen arbeitet Erik jede Woche 40 Stunden für Attac. Die Organisation setzt sich mit E-Mail-Kampagnen und Protestaktionen für ein Spektrum von linken und globalisierungskritischen Themen ein.
Bei Attac landete Erik über ein Praktikum und entschied sich danach zu bleiben. Inzwischen sitzt er im Rat der Organisation, der die strategische Ausrichtung von Attac bestimmt. Gemeinsam mit einem Freund belebte Erik auch die Gruppe Junges Attac. „Die Jugendstrukturen waren ein bisschen eingeschlafen“, berichtet Erik. „Dabei bereichert es, junge Menschen zu involvieren.“ Eriks Aufgaben sind größtenteils organisatorischer Natur. Er plant Protestaktionen, nimmt an Sitzungen teil und geht auf Demonstrationen.
Aktivismus, meint Erik, sei einem Bürojob gar nicht so unähnlich. Nur dass er nicht bezahlt wird. Geld bekommt er darum von seinen Eltern. Die unterstützen ihn gerne. Doch langfristig möchte Erik nicht von ihnen abhängig sein. „Ich möchte auf jeden Fall mein Leben lang aktivistisch sein und für eine Gesellschaft ohne Diskriminierung kämpfen“, sagt Erik, „aber hauptberuflich wird das schwierig.“
Die WG
Amelie und Basti sind Teil einer Wohngemeinschaft voller Gleichgesinnter. Zu sechst teilen sie sich ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, Küche, Bad und ein Ruhezimmer. Das Konzept nennt sich funktionales Wohnen, da es Platz und Geld spart. „Wir mussten die Regel aufstellen, dass nur im Arbeitszimmer über Aktivismus gesprochen wird“, erzählt Amelie. Die Bewohnerinnen und Bewohner engagieren sich nämlich alle in verschiedenen Organisationen. Amelie und Basti engagieren sich bei Extinction Rebellion. Sie gehören zu deren Ortsgruppe in Berlin.
Die Umweltschutzgruppe ist für ihren zivilen Ungehorsam bekannt. Auch Amelie und Basti saßen schon auf Straßen und besetzten Ministerien. „Ich weiß noch, wie wütend ich nach meiner ersten Aktion war“, erzählt Amelie. „Menschen, die sonst nicht einmal über Rot gehen, blockieren eine Straße, weil sie nicht mehr weiter wissen.“ Innerhalb von Extinction Rebellion sind die Aufgaben der beiden vielfältig: Amelie organisiert Antirassismus-Workshops und klärt Mitglieder über rechtliche Konsequenzen von zivilem Ungehorsam auf, Basti veranstaltet regelmäßige Treffen für die Mitglieder in Berlin und hilft anderen Menschen beim Einstieg in die Bewegung.
Im Juli erhielt Basti seinen Doktortitel im Fach Geowissenschaften. Anstatt danach einen Job anzunehmen, ging er zum Vollzeitaktivismus über. „Als Geowissenschaftler habe ich mich viel mit den Folgen der Klimakatastrophe auseinandergesetzt“, erzählt Basti. „Ich wollte etwas dagegen tun.“ Amelie schreibt gerade an ihrer Masterarbeit, so gut es geht. Neben dem Aktivismus bleibt dafür nicht viel Zeit. Sie hat einen Fundraiser, über den Freundinnen und Freunde sie finanziell unterstützen können. Zu seiner Doktorandenzeit schickte auch Basti ihr gelegentlich Geld. Heute lebt er von seinem Ersparten und bekommt Wohngeld. Das Umfeld der beiden ist hin und wieder beunruhigt, fragt nach Rente und sozialer Sicherheit. „Aber wenn sich das Klima so weiter entwickelt, ist das Thema Rente ohnehin nicht mehr relevant“, meint Basti.
Von Franziska Balzer
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