„Ausmaß unterschätzt“: Paradiese versinken im Plastikmüll
Etwa 337.000 Zahnbürsten und 997.000 Paar Schuhe gibt es auf den entlegenen Kokosinseln im Indischen Ozean – dabei leben dort nur um die 600 Menschen. Wie das sein kann?
Auf den Inseln sammeln sich gigantische Mengen an Müll, die aus anderen Regionen der Welt angespült werden. Die geschätzte Menge an Zahnbürsten und Schuhen entspricht der, die die Inselbewohner selbst in 4000 Jahren als Müll produzieren würden, errechneten australische Forscher, die die Müllmenge in einer aktuellen Studie erfasst haben. Ihnen zufolge ist das Problem der Plastikvermüllung womöglich noch schlimmer als bislang gedacht: 93 Prozent der Plastikteile lägen bis zu zehn Zentimeter tief im Sand begraben, zumeist in Form kleiner Schnipsel. Dieser Müll ist weitgehend unsichtbar – und wie er entfernt werden könnte derzeit unklar. Die Forscher stellen ihre Untersuchung im Fachblatt „Scientific Reports“ vor.
Direction Island: Am Strand sind die meisten Plastikteile im Sand begraben und damit noch schwieriger zu entfernen. Quelle: dpa/Silke Stuckenbrock
Die Kokosinseln liegen gut 2100 Kilometer vor der Nordwestküste Australiens. Sie bestehen aus zwei Atollen: dem aus einer einzigen Insel bestehenden North Keeling und dem 26 Inseln umfassenden South Keeling Atoll. Die Forscher um Jennifer Lavers von der University of Tasmania (Tasmanien/Australien) untersuchten im Jahr 2017 die Plastikvermüllung auf sieben der insgesamt 27 Inseln. Diese sieben Inseln umfassten 88 Prozent der gesamten Landmasse der Kokosinseln, so die Wissenschaftler. Ein Teil von ihnen sei bewohnt.
Von 97 Kilo Müll sind 95 Prozent Plastik
In abgesteckten Abschnitten sammelten die Wissenschaftler an insgesamt 25 Stränden Plastik und anderen Müll zum einen von der Oberfläche ab, zum anderen in bis zu zehn Zentimeter Tiefe unter der Oberfläche. Außerdem bestimmten sie die Müllmenge im hinter dem Strand gelegenen Vegetationsstreifen.
Insgesamt sammelten die Wissenschaftler 23.227 Müllteile mit einem Gewicht von 96,67 Kilogramm. Hochgerechnet auf alle Inseln schätzten sie, dass im Jahr 2017 etwa 414 Millionen Teile menschengemachter Müll mit einem Gewicht von knapp 238 Tonnen auf den Kokosinselnlagerte. Der Großteil – mehr als 95 Prozent – war Plastik. Glas, Holz oder Textilien fanden die Forscher nur in geringer Menge. Von den identifizierbaren Teilchen waren 25 Prozent Einwegplastik: Strohhalme, Tüten, Zahnbürsten, Trinkflaschen, Einmalbesteck oder Lebensmittelverpackungen. Fischereizubehör fanden sie eher selten.
Abfälle erstrecken sich kilometerweit am Strand entlang, 23.227 Müllteile sammelten Forscher an 25 Stränden.Quelle: dpa/Silke Stuckenbrock
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Unsichtbarer Müll bisher „drastisch unterschätzt“
Den kleineren Teil des Mülls fanden die Forscher an der Oberfläche der Strände: 14,29 Millionen Teile mit einem Gewicht von knapp 48 Tonnen hochgerechnet auf alle Inseln. 93 Prozent der Müllteile – insgesamt 384 Millionen Teile mit einem Gewicht von mehr als 61 Tonnen – sind den Forschern zufolge hingegen unsichtbar, in den ersten zehn Zentimetern der Oberfläche verborgen. Dabei handelt es sich zumeist um Mikroplastikteile mit einer Größe von zwei bis fünf Millimetern. Im Vegetationsstreifen hinter dem Strand wurden vor allem größere Müllteile gefunden.
Das Mikroplastik macht den Wissenschaftlern am meisten Sorge: Gegenwärtig werde, wenn überhaupt, zumeist der sichtbare Müllentfernt. Allein das sei aufwendig und teuer. Wie es gelingen kann, die kleinen und häufig im Untergrund verborgenen Plastikschnipsel aus dem Sedimentgemisch herauszuholen, ohne die Lebewesen darin zu schädigen, sei fraglich. Wie sich die Verschmutzung auf die Tierwelt auswirke, die dort lebe und brüte – etwa Schildkröten und Krebstiere – sei unklar. Viele Untersuchungen hätten sich bisher auf das Plastik auf den Stränden fokussiert – das lasse vermuten, dass das Ausmaß der Plastikvermüllung bisher drastisch unterschätzt wurde, schreiben die Wissenschaftler.
Entlegenste Regionen der Welt mittlerweile vermüllt
„Unsere Schätzungen von 414 Millionen Teilen mit einem Gewicht von 238 Tonnen auf den Kokosinseln sind konservativ, weil wir nur Proben in bis zu zehn Zentimeter Tiefe genommen haben und zudem einige Strände nicht erreichen konnten, die als besonders stark verschmutzt bekannt sind“, sagte Lavers laut Mitteilung der University of Tasmania.
Müll mit einem Gewicht von knapp 238 Tonnen lagern auf den Kokosinseln. Quelle: dpa/Silke Stuckenbrock
Reinigungsaktionen, bei denen zumeist Freiwillige den Müll von den Stränden klaubten, könnten generell mit der fortschreitenden Plastikvermüllung nicht Schritt halten. „Die einzig praktikable Lösung ist es, Plastikproduktion und -konsum zu reduzieren und gleichzeitig die Müllentsorgung zu verbessern, um zu verhindern, dass das Material überhaupt erst in unsere Ozeane gelangt“, sagte Annett Finger, eine weitere beteiligte Wissenschaftlerin.
„Inseln wie diese sind wie Kanarienvögel in einer Kohlengrube und es ist höchste Zeit, dass wir auf die Warnung hören, die sie uns geben“, sagte Lavers.
Der Müll unserer Zivilisation findet sich in Form der Plastikschnipsel mittlerweile in den entlegensten Regionen der Welt, nicht nur in Flüssen, Ozeanen und auf Inseln, auch in den Pyrenäen auf etwa 1400 Meter Höhe haben Forscher kürzlich Mikroplastik nachgewiesen. Es wurde in der Atmosphäre dorthin transportiert.
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Von RND/dpa