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Parasoziale Beziehungen: Meine beste Freundin, Rory Gilmore

Parasoziale Beziehungen: Meine beste Freundin, Rory Gilmore
Foto: Ron Batzdorff/APC

Erwachsenwerden ist anstrengend. Das thematisieren auch Serien, Bücher und Songtexte. Auf dem Weg, sich neu zu entdecken, können parasoziale Beziehungen helfen – wie MADS-Autorin Luise aus eigener Erfahrung weiß.


Ich dachte, ich sei sie. Verliebt in Bücher und Listen, entschlossen und konzentriert. Auf dem sicheren Weg, Journalistin zu werden. In den vergangenen drei Jahren war Rory Gilmore der Serie „Gilmore Girls” mein Vorbild. In der kleinen Zeitungsredaktion über der Eisdiele lobte man mich für meine fehlerfreien Texte und meinen Einsatz, früher zu kommen und länger zu bleiben. Als ich im Jugendgottesdienst für Klimaschutz und Bildung für alle plädierte, erhielt ich rauschenden Applaus. Rory Gilmore, mein Idol, meine Freundin, meine „comfort person“. Gemeinsam haben wir die Abschlussrede geschrieben, Nachhilfe gegeben und uns danach gesehnt, der Kleinstadt zu entfliehen. Raus in die Welt, weg vom Vertrauten, so hoch hinaus, wie es nur geht.

Parasoziale Beziehungen geben Halt

Schließlich scheint es so, als hätte ich es erreicht: Das Abitur geschafft, den Studienplatz ergattert und dann der langersehnte Umzug in die Stadt – und Rory und ich auf dem Höhepunkt unserer Freundschaft. Ironischerweise lerne ich im Studium den Namen dieser Freundschaft kennen: Eine parasoziale Beziehung – die habe ich zu Rory aufgebaut. Der Begriff geht zurück auf die Psychologen Donald Horton und Richard Wohl. Als in den 1950er-Jahren die ersten Fernsehserien in amerikanischen Haushalten ausgestrahlt wurden, stellten sie fest: Es genügt, eine Person im Fernsehen zu sehen, um eine emotionale Bindung zu ihr zu entwickeln. Ich habe mich in Rory wiedergefunden. Als ich dabei zuschaute, wie sie zu einer wichtigen Englischklausur zu spät kam, nachdem ein Reh gegen ihr Auto gelaufen war, fühlte ich mit ihr mit. Und lernte zugleich, dass es nicht schlimm ist, mal nicht perfekt zu sein.

Das verstehe ich jetzt auch, wenn sogar Olivia Rodrigo in ihrem Song „pretty isn’t pretty” zugibt, dass sie sich unwohl in ihrer Haut fühlt. Und wenn Daisy aus dem Buch „Daisy Jones & The Six” verkündet, dass sie niemandes Muse ist, sondern der ein eigner Jemand, dann fühle ich mich bestärkt. „Ein Buch zu lesen heißt für den guten Leser: eines fremden Menschen Wesen und Denkart kennenzulernen, ihn zu verstehen suchen, ihn womöglich zum Freund zu gewinnen”, heißt es in einem Zitat von Hermann Hesse. Freundinnen findet man also nicht nur im echten Leben, sondern auch in Buchstaben auf Seiten oder in Pixeln auf Bildschirmen. Und mit Freundinnen geht man bekanntlich durch gute und schlechte Zeiten, über Jahre hinweg – hoffentlich bis hin zum Erwachsensein.

Erwachsen – ein Wort, das mir immer weit weg vorkam. Bis ich schließlich in meiner Studentenwohnung stehe und mit einem Kloß im Hals beobachte, wie der weiße Volvo meines Papas um die Ecke verschwindet. Schnell Musik anstellen. Denn alles, was ich gerade fühle, hat Taylor Swift für mich in Worte gefasst: „So here I am in my new apartment / In a big city, they just dropped me off / It’s so much colder than I thought it would be / So I tuck myself in and turn my nightlight on.”

Keinen Plan, nicht einmal einen „pla-“

Das Motiv des Erwachsenwerdens ist in der Popkultur weit verbreitet – ob in Serien, Büchern oder Liedern. Hat unsere Gesellschaft Angst davor, erwachsen und verantwortungsvoll zu werden? „Erwachsenwerden ist so eine barbarische Angelegenheit … voller Unannehmlichkeiten”, sagt Peter Pan. Der Autor des ursprünglichen Theaterstücks, James Matthew Barrie, wurde mit seinem Werk über den Jungen, der nicht erwachsen werden will, bereits 1904 zu einem literarischen Superstar. Schon vor 120 Jahren ließen sich Menschen also gerne ins Nimmerland entführen, um dem stressigen Alltag zu entfliehen. Auch in der 90er-Kultsitcom „Friends” begleiteten Millionen Fans weltweit sechs Freundinnen und Freunde beim Versuch, mit Mitte 20 langsam erwachsen zu werden und Alltag, Karriere und Liebe unter einen Hut zu bekommen. Noch heute ist die Serie ein Streaminghit und viele Fans schätzen die sechs jungen Erwachsenen, die in den ersten Staffeln eigentlich keinen Plan im Leben haben – nicht einmal einen „pla-“, wie „Friends“-Charakter Phoebe zugibt. Auch ich. Ich finde Trost darin, zu wissen, dass ich nicht alleine bin.

Denn auch ein halbes Jahr nach meinem Umzug stelle ich mir die Frage: Wer bin ich an diesem neuen Ort? „What was I made for?”, fragen Billie Eilish und ich im Chor. Ich bin nicht mehr Rory. Vielmehr bin ich Rachel aus „Friends” und versuche, mich in einer großen Stadt zu beweisen. Plötzlich vergesse ich die rote Socke in der weißen Wäsche und versuche, meine Miete mit hart erarbeitetem Geld aus meinem Nebenjob zu finanzieren. Aber irgendwie ist es gar nicht so schlimm. Denn meine parasozialen Freundinnen machen ja alle das gleiche durch, wenn ich auf Play drücke.

. Von Luise Moormann


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Über den Autor/die Autorin:

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