Theater in Rostock: roh, brutal, tödlich
Nach einer Probe des Premieren-Stücks „Jugend ohne Gott“ am Volkstheater Rostock sprechen vier junge Mads-Reporterinnen mit Schauspielern – berichten über Kameraführung auf der Bühne und starren Kinderköpfen.
Das Bühnenbild ist spartanisch, ein Bett, Stühle, ein Tisch, darauf ein paar Blumen. Sieben Gestalten tippeln langsam dem Publikum entgegen, alle tragen große runde, starre Babyköpfe und kurze Hosen. Die Mimik ist eingefroren. Keine Stimmen. Nur Töne einer verhaltenen Melodie.
So beginnt das neue Stück am Volkstheater Rostock, „Jugend ohne Gott“. Vier Mads-Reporterinnen aus der 8. und 12. Klasse aus dem Innerstädtischen und dem Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Rostock waren für das OZ-Projekt „Medien an der Schule“ (Mads) bei einer Hauptprobe dabei und interviewten anschließend vier Darsteller.
Gruselige Kinderköpfe
Für die 24-jährige Schauspielerin Klara Eham ist „Jugend ohne Gott“ das erste Stück auf der großen Bühne der Hansestadt. Gleich vier unterschiedliche Rollen besetzt die gebürtige Münchnerin. „Ich muss mich in dem Stück oft hinter den Kulissen umziehen – das ist zwar stressig, aber macht Spaß.“ Sie berichtet, dass sie es möge, die Kinderköpfe zu spielen, die manches Mal auf der Bühne tonlos auftauchen. „Sie erzeugen eine gruselige Atmosphäre“, sagt die junge Frau. „Ich habe mich auch etwas in meinen Kinderkopf verliebt.“
Genauso mag sie die Hauptprobe auf der „richtigen“ großen Bühne, nach den vielen Proben auf kleineren Bühnen. „Spannend finde ich die Arbeit mit der Kamera auf der Bühne, die während des Stückes immer wieder zum Einsatz kommt.“ Für sie sei das eine neue Erfahrung: das Spielen auf einer Bühne mit den Aufnahmen einer Kamera zu verbinden.
Kamera filmt auf der Bühne mit
Jemand, der oft auf der Bühne gefilmt wird und dessen Gesicht dann teilweise eindrucksvoll nah zu sehen ist, ist der Berliner Hauptdarsteller Luis Quintana. Er besetzt die Figur des Lehrers und spielt derart intensiv, dass es mitunter schmerzt, wie er leidet. Quintana, dessen chilenischer Vater Alejandro Quintana vielen noch von diversen Regiearbeiten am Theater ein Begriff ist, hat bereits Erfahrungen mit Kameraeinsätzen auf einer Bühne. „Manchmal passen Kameras nicht in ein Stück. Aber in diesem aktuellen Fall gelingt die Umsetzung hervorragend.“ Der 32-Jährige erläutert, dass mit dem Kameraeinsatz verschiedene Ebenen und somit verschiedene Erzähl-, Denk- und Blickwinkel erzeugt werden. „Die Kinderköpfe geben ein tolles Bild“, sagt er. „Ich denke, sie stehen für eine Art Mahnung, für die Jugend und die Kindheit, um die man sich nicht kümmert.“
Beklemmende Atmosphäre
Für den 24-jährigen Schauspiel-Studenten an der HMT Rostock, Oktay Önder aus Bonn, ist der Einsatz der Kamera aufreibend, weil er filmt, was auf der Bühne passiert und gleichzeitig die Rolle eines Schülers spielt. „Ich habe mit dem Ensemble extra einen Kamerakurs absolviert“, berichtet er. Der Einsatz der Kamera hilft, die Romanvorlage des Stückes bühnentauglich zu machen und für die unheimliche, düstere, spannende und lebendige Atmosphäre zu sorgen.
Ulrich K. Müller verkörpert in dem Spiel unter anderem den Rektor, den Pfarrer und den Anwalt. Der 55-Jährige, der seit 15 Jahren zur Volkstheater-Mannschaft gehört und aus Bremerhaven stammt, berichtet: „Ich habe mir bei der Vorbereitung auf den Stoff Dokumentationen über die Zeit der 1930er Jahre angeschaut, um ein Gefühl für die damalige Zeit zu bekommen.“ Außerdem befragte er seine Eltern nach ihren Erfahrungen aus jenem Jahrzehnt. „Dadurch kann ich mich nun besser in das damalige Leben hineinversetzen.“
Das „Zelebrieren des Schrecklichen“
Oktay Önder sagt: „Für mich ist es schwierig, den Gegensatz von Gemeinschaftsgefühl und den schrecklichen Taten, auf den die Schüler vor dem Zweiten Weltkrieg vorbereitet wurden, zu fassen.“ Das „Zelebrieren des Schrecklichen“ musste er erst einmal verinnerlichen, um sich auf seine Rolle vorzubereiten. „Leichter war dagegen, sich die einzelnen Handlungsmotive meiner Figur zu erschließen.“
Trotz der ungewohnten Kamera-Arbeit in der Aufführung sind die Schauspieler froh, wieder auf der Bühne zu stehen, hoffentlich auch vor Publikum – denn ein großer Teil des Theaterspielens besteht nach Auffassung der Darsteller im Zusammenspiel und der Kommunikation mit dem Publikum. Deshalb sind für die Rostocker Mimen Vorstellungen, die abgefilmt und gestreamt werden, wie es während der laufenden Pandemie teilweise praktiziert wird, eher traurig.
Ödön von Horváth schrieb die Vorlage
Der Antikriegsroman „Jugend ohne Gott“ wurde 1937 von Ödön von Horváth (1901-1938) veröffentlicht. Der Deutsch schreibende Ungar stellt einen 34-jährigen namenlosen Lehrer in den Mittelpunkt, der aus seinem Berufsalltag im Dritten Reich berichtet. Die Schüler in dem Stück tragen statt Namen lediglich Buchstaben, wie „N“ oder „T“. Der Lehrer verhält sich zwar wie ein Mitläufer systemkonform, erschrickt aber vor den rassistischen Abgründen in den Aufsätzen seiner Schüler und verzweifelt in der Folge immer mehr an ihrer Gefühlskälte und Gleichgültigkeit. Die verrohten Jungs hassen ihren Lehrer, als er zu bedenken gibt, dass auch „Neger“ Menschen seien und verlangen einen anderen Pädagogen.
In einem Zeltlager, wo die Klasse militärisch ertüchtigt wird, erschlägt ein Schüler aus Mordlust einen Klassenkameraden. Der hilflose und in Kneipen flüchtende Lehrer fragt sich immer mehr, ob man trotz der Grausamkeiten in der Welt noch an einen Gott, an einen Humanismus, glauben kann. Und erlebt, was passiert, wenn (nicht nur) die Jugend von humanistischen Werten ferngehalten oder entwöhnt wird.
Kommentare:
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Theater: Freiraum gegen gereizte Stimmung
Von Helene Beblein (14), Liska Amberger (13), Sarah Wockenfuß (19) und Lilith Michaelis (18)