Queeres Erinnern: Was wissen wir über sexuelle Minderheiten aus der NS-Zeit?
Homosexuelle Männer wurden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bereits vor, aber auch während der NS-Zeit nach Paragraf 175 bestraft. Bis heute ist das queere Erinnern schwierig. Historiker Lutz van Dijk erklärt, was dahintersteckt.
Ein rosafarbenes Stoff-Dreieck mit der Spitze nach unten auf der linken Brust – in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) mussten verurteilte homosexuelle Männer, die in ein Konzentrationslager verschleppt worden waren, den sogenannten „Rosa Winkel“ tragen. Es gab mehrere Dreiecke in unterschiedlichen Farben. So stand beispielsweise Rot für „politisch Gefangene“ und Schwarz für „Asoziale“ oder „Gemeinschaftsunfähige“.
Die Winkel dienten dazu, die Gefangenen in den Konzentrationslagern zu unterscheiden. Manchen von ihnen trugen mehrere Winkel. Wer mit einem rosafarbenen Dreieck markiert war, wurde nach Paragraf 175 bestraft. „Das heißt aber nicht immer, dass dieser Mann auch homosexuell gewesen sein muss“, sagt Lutz van Dijk. Der deutsch-niederländische Autor und Historiker setzt sich für die Rechte queerer Menschen ein und erklärt, warum queeres Erinnern so wichtig ist.
Zur Person: Der deutsch-niederländische Autor, Historiker und Pädagoge Lutz van Dijk, geboren 1955 in Westberlin, lebt seit 2001 mit seinem Mann in Kapstadt (Südafrika). Dort setzt er sich als Mitbegründer von „Homes for Kids in South Africa“ (HOKISA) für von HIV/Aids betroffene Kinder und Jugendliche ein. Zehn Jahre lang arbeitete er in Hamburg als Lehrer und anschließend im Anne-Frank-Haus in Amsterdam. In unterschiedlichen Verlagen veröffentlichte van Dijk zahlreiche Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Noch im Juli erscheint sein neuster Roman „Irgendwann die weite Welt“, in dem er von seinem Aufwachsen in Westberlin schreibt und darüber, wie er mit 18 nach New York ging.
1871: Wie Paragraf 175 entstand
Das Deutsche Kaiserreich führte den Paragrafen 175, der „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern bestrafte, im Jahr 1871 ein. Dass der Strafbestand sich allein auf Männer bezog, lag in dem damaligen Frauenbild, erklärt van Dijk. Demnach wurden Frauen lange nicht zuerkannt, dass sie sexuelle Wesen seien. Deshalb wurde ihnen nachgesagt, dass sie keine sexuelle Lust empfänden. Die katholische Kirche sah im traditionellen Verständnis einzig die Rolle der Mutter.
1935: Verschärfung des Paragraf 175
Das Nazi-Regime verschärfte im Jahr 1935 das Gesetz. Schon der Verdacht auf sexuelle Handlungen zwischen Männern reichte aus, um bis zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt zu werden. Dass Frauen nicht explizit erwähnt wurden, schützte Lesben jedoch nicht. Sie wurden als „asozial“ oder „unheilbar krank“ bezeichnet, wie van Dijk berichtet. Sie und alle nach Paragraf 175 Bestraften wurden nicht systematisch vergast, überlebten aber, wenn überhaupt, unter extrem harten Bedingungen. „Diese Menschen wurden systematisch kaputt gemacht“, sagt van Dijk. Das alles wisse man allerdings erst heute.
1969: Abschaffung von Paragraf 175
Nach 1945 blieb der Paragraf bestehen, da er nicht aus der Feder des NS-Regimes stamme, wie die Regierung damals begründete. „Die Diskriminierung war uneingeschränkt“, so van Dijk. 1969 wurde das Gesetz abgeschwächt und erst 1994 strich der Bundestag den Paragrafen komplett.
Queeres Erinnern im Bundestag
Jahrelang kämpften van Dijk und andere Engagierte für ein offizielles Gedenken queerer Menschen aus der NS-Zeit. Am 27. Januar 2023 war es unter der neuen Ampel-Regierung dann so weit – die jährliche Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des NS widmete sich genau jenen. „Das war eine sehr bewegende Stunde“, erinnert sich van Dijk.
Vorurteile bestehen weiter
Trotzdem müsse da mehr passieren, fordert der Autor: Im Staatlichen Museum Auschwitz gebe es beispielsweise „bis heute im Ausstellungsbereich nichts, was daran erinnert“. Weiterhin gebe es viele Vorurteile gegenüber sexuellen Minderheiten aufgrund von rechtsnationalen Regierungen, die verboten hätten, dass über jene aufgeklärt werde. „Wir werden nicht lockerlassen“, sagt van Dijk dazu. Wichtig findet er, auch junge Menschen aufzuklären. Und zwar so, dass queere Menschen nicht als „die anderen“ dargestellt würden, denn so sei er selbst aufgewachsen. Stattdessen müsse Homosexualität als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft verstanden werden. Dafür müssten außerdem gesetzliche Grundlagen geschaffen werden. „Das hat mit dieser Regierung begonnen“, sagt er und nennt das Selbstbestimmungsgesetz als Beispiel.
Der Kampf geht trotz positiver Veränderungen weiter
Van Dijk sieht viele positive Veränderungen, die allerdings nur für den westlichen Teil der Welt gälten: In mehr als zehn Ländern drohe immer noch die Todesstrafe für queere Menschen. „Im letzten Jahr wurde sie sogar in Uganda, einem eher christlichen Land in Ostafrika, erst eingeführt“, weiß er.
Außerdem: Noch vor kurzer Zeit habe es das Wort „queer“ in Deutschland gar nicht gegeben – jetzt benutze es sogar die Politik. Er betont allerdings: „Das ist nicht in allen Ländern so. Manche kennen das Wort gar nicht.“ Außerdem sieht er Erfolge bei der Sichtbarkeit queerer Menschen: „Schwule Männer und lesbische Frauen werden mehr wahrgenommen.“ Früher wären sie viel stärker stereotypisiert gewesen. Allerdings höre er noch heute, wenn er von seinem Mann erzähle, dass man ihm seine Homosexualität „gar nicht ansieht“.
Van Dijk appelliert: „Eine Akzeptanz von Minderheiten muss immer wieder verteidigt werden. Es geht um uns alle.“ In rechtspopulistischen Parteien wie der AfD sehe er eine Bedrohung und vor allem eins – Rückschritte. „Es macht auch die Qualität der Gesellschaft aus, wie mit Minderheiten umgegangen wird“, betont der Historiker.
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