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ESC 2019: Die Songwriter suchen die Zauberformel

ESC 2019: Die Songwriter suchen die Zauberformel
Foto:  NDR

Wie begeistert man 200 Millionen Europäer in 180 Sekunden? Der NDR sucht einen Hit für den Eurovision Song Contest. Ein Besuch im Songwriting-Camp.


Musik liegt in der Luft. Sie schwebt hinaus aus dem Fenster eines Kreuzberger Hinterhauses, sie wirbelt leise über den Hof, bis sie verfliegt. Es ist das Lied eines Gitarristen. Er steht im Treppenhaus und singt. Möglich, dass er das schon ist: der Song, der im Mai Europa betören wird. Der Refrain, der Deutschland beim Eurovision Song Contest im Mai in Tel Aviv weit tragen wird.

Drinnen, im Kung Fu Studio Kreuzberg, sitzen junge Menschen in beiläufiger Kleidung herum, Gitarren auf dem Schoß, die Haare gerade so verwuschelt, wie das nur ein gewisser Aufwand möglich macht. Sie suchen. Sie testen. Sie graben nach Themen, Texten, Tönen. 965 Künstler hatten sich um das deutsche ESC-Ticket beworben. Sechs von ihnen hat der NDR hierher nach Berlin eingeladen, zum Songwriting-Camp. Es ist ein Ferienlager für Popmusik.

Algorithmus statt Geniestreich

24 Produzenten, Texter, Komponisten aus aller Welt stehen ihnen zur Seite, viele mit ESC-Erfahrung. Jeden Morgen um 10 Uhr wird durchgemischt: Wer schreibt heute mit wem? In Studio 1 sitzt Aly Ryan (23), aufgewachsen als Alexandra Eigendorf in Oberursel. „Der Sound müsste dunkler sein, mehr The Weeknd, weniger Dua Lipa“, findet sie. Am Keyboard sitzt Thomas Steengard und nickt. Er weiß, was beim ESC funktioniert. Er hat „Only Teardrops“ mitgeschrieben – den Song, mit dem die Dänin Emmelie de Forest 2013 den ESC gewann. „Wear Your Love“ wird Aly Ryans Song für den ESC-Vorentscheid am Ende heißen.

Der NDR hat sich viel Spott anhören müssen, als er 2018 – nach fünf bitteren ESC-Pleiten am Stück – einen neuen Modus einführte, der erst mal technokratisch klang, nach Mathematik statt Musik: Über den deutschen Teilnehmer entscheidet zu je einem Drittel ein 100-köpfiges „Eurovisions-Panel“, das den europäischen Geschmack widerspiegelt, eine 20-köpfige Fachjury und das Publikum.

Und bei der Auswahl hilft seit 2018 ein komplexer Algorithmus, der Abstimmungsverhalten, Vorlieben, Traditionen und ESC-Datenmaterial berücksichtigt. Das entspricht nicht dem romantischen Bild vom Künstler, der plötzlich vom Lichtstrahl der Kreativität getroffen wird, aber der Erfolg gibt dem Team recht: Michael Schulte wurde 2018 in Lissabon Vierter – mit der Ballade „You Let Me Walk Alone“ über die Kraft der Familienliebe und seinen verstorbenen Vater. Nach Jahren des Elends.

ESC: Schreiben für die große Bühne

„Wir brauchten einen Mechanismus, mit dem wir europäische Geschmäcker in der Entscheidungsfindung stärker berücksichtigen können“, sagt ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber. Das Ziel sei aber nicht Konsens, sondern die Suche nach dem universal verständlichen Besonderen. Denn Konsensmusik – ein Song also, der vielen ein bisschen, aber niemandem so richtig gefällt – landet beim ESC eher auf Platz 22.

Als Berater ist Wolfgang Dalheimer im Camp dabei, Leiter von Stefan Raabs früherer Hausband The Heavytones. „95 Prozent reichen hier nicht“, sagt er. Auch mal nerven, auch mal fordern – das sei sein Job, sagt er. „Wir schreiben hier nicht fürs Radio, wir schreiben für die große Bühne.“ Was funktioniert beim ESC? „Jurys mögen handwerkliche Qualität und starke Stimmen, Zuschauer mögen das Emotionale. Es muss alles aus einem Guss sein: Lied, Künstler und Inszenierung.“

Linus Bruhn schreibt „Our City

Ein guter Song ist größer als die Summe seiner Teile. Ein geheimnisvolles Elixier macht aus einem soliden Stück Pop eine Schönheit. Dieses Ohrwurm-Elixier ist flüchtig wie Feenstaub. Man kann ihm den Boden bereiten, aber man kann einen Hit nicht erzwingen. „Es ist nicht so, dass die Muse immer als Erste den Raum betritt“, sagt Jens Bujar, mit „Herbergsvater“ Lars Ingwersen verantwortlich für das Camp. „Manchmal hat ihr Bus Verspätung. Das Wichtigste ist: Es darf kein Blatt zwischen Song und Künstler passen.“

Das weiß auch Linus Bruhn, 20 Jahre, aus Hamburg. Mit zehn Jahren spielte er den jungen Tarzan im Disney-Musical, mit zwölf Jahren gewann er die RTL-II-Show „My Name Is“ – als Justin-Bieber-Imitator, mit 15 trat er bei „The Voice“ an. Mit Coverversionen großer Hits erarbeitete er sich Hunderttausende Follower bei Instagram und Youtube.

„Jeder Tag mit neuen Leuten“, sagt er – „das genieße ich“. „Our City“ heißt sein Song am Ende. Es ist dann doch nicht die persönliche Ballade über seinen Bruder geworden, zu dem die Familie seit vier Jahren keinen Kontakt mehr hat. Das hätte auch zu kalkuliert gewirkt: Schon wieder ein emotionales Familienlied, wie bei Schulte.

Nicht mehr die Plattenfirmen entscheiden also, nicht mehr der Sender oder das Bauchgefühl einzelner Musikmanager. Der ESC-Beauftragte Schreiber will wieder in den Top Ten landen und ist zuversichtlich: „Es gibt ein Lied, bei dem ich mir Tränen vorstellen kann.“ Hoffentlich aus den richtigen Gründen.

Von Imre Grimm/RND


Über den Autor/die Autorin:

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