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„Sie trauen sich nicht, Wörter wie ‚Kanake‘ zu nennen“: Wie das Jugendwort Talahon polarisiert

„Sie trauen sich nicht, Wörter wie ‚Kanake‘ zu nennen“: Wie das Jugendwort Talahon polarisiert
Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Langenscheidt hat die Top 3 Jugendwörter des Jahres 2024 veröffentlicht: Neben Aura und Schere gehört auch Talahon dazu. Doch das Wort steht in der Kritik, zunehmend als rassistische Beleidigung genutzt zu werden. Was sagen Jugendliche dazu?


Sie tragen Gucci-Cap und Bauchtasche, Designerkleidung, die nicht unbedingt echt ist. Man trifft sie meist an öffentlichen Orten wie dem Hauptbahnhof, oft in Gruppen. Ein Talahon ist männlich, jung und fällt auch durch unangenehmes Verhalten auf. Was erst einmal wie eine recht harmlose Stereotypisierung klingt, hat innerhalb kurzer Zeit eine üble Wendung genommen. Denn: Die gemeinten Personen haben meist einen Migrationshintergrund.

Bei der Wahl zum Jugendwort des Jahres steht der Begriff aktuell in der Top 3, könnte im Oktober sogar gewinnen. „Abgeleitet aus dem Arabischen, bedeutet ‚komm her‘; wird von und für Menschen mit stereotypen Merkmalen oder Verhaltensweisen verwendet“, schreibt der Langenscheidt-Verlag über das Wort Talahon. Diese vage Beschreibung wird den Ausmaßen, die das Wort unter Jugendlichen und besonders in sozialen Medien angenommen hat, kaum gerecht. 

Talahon: Rapsong und KI-Hit

Talahon leitet sich, so die breite Annahme, vom Arabischen „taeal huna“ ab – komm her. So nutzte es auch der Rapper Hassan, der als Schöpfer des Trends angesehen wird, in seinem Song „TA3AL LAHON“ aus dem Jahr 2022. „Ta3al lahon, ich geb‘ dir ein‘n Stich, bin der Patron“, ist die wohl meistzitierte Zeile des Liedes. Fast zwei Jahre später wird unter dem Pseudonym „Butterbro“ der Song „Verknallt in einen Talahon“ veröffentlicht. Es ist das erste KI-generierte Lied, das es in die Top 50 der deutschen Charts schafft. Den Songtext schrieb Josua Waghubinger. Er erntet auch Kritik für Formulierungen, die negative Stereotype verbreiten, zum Beispiel: „Das Messer in der Tasche ist bestimmt nicht nur fürs Butterbrot.“

Harmloser Witz oder gefährlicher Rassismus? In den sozialen Medien waren die Meinungen schnell gespalten. Doch was sagen eigentlich Jugendliche dazu – vor allem die, die selbst potenziell von dieser Zuschreibung betroffen sind? MADS hat sich auf der Straße umgehört.

In einem Punkt sind sich alle befragten Jugendlichen einig: Am Anfang war es noch Spaß. Freunde bezeichneten sich scherzhaft als Talahons, wenn sie den typischen Style trugen – der schließlich durchaus zum Mainstream zählt. „Am Anfang war es lustig, finde ich. Jeder hat es irgendwie benutzt“, erzählt ein Schüler. Doch langsam flacht der Trend ab. „Das Wort wird viel zu inflationär genutzt“, sagt der 18-jährige Emir. „Ich finde es einfach cringe“, meint auch der 30-jährige Amar. Einige Menschen, deren Muttersprache Arabisch ist, erklären, dass sie das Jugendwort Talahon gar nicht nutzen – für sie hat der Satz schließlich eine ganz andere Bedeutung. 

Vom Jugendwort zur rassistischen Beleidigung

In Gesprächen mit Menschen mit Migrationshintergrund wird schnell klar: Von einer harmlosen Beschreibung eines Kleidungsstils ist hier nicht mehr die Rede. Eher wird Talahon genutzt, um Menschen in eine Schublade zu stecken – als herablassender Begriff für Jugendliche mit Migrationshintergrund. 

„Wenn Leute anfangen, es als Synonym für ‚Kanake‘ zu benutzen, um sich rauszureden, finde ich das politisch nicht korrekt“, sagt die 19-jährige Jumana. „Es wird sich immer ein neues Wort finden, um diese Untergruppierung zu beschreiben. Sie trauen sich nicht, Wörter wie ‚Kanake‘ zu nennen, aber Talahon ist okay, weil es ein Trend ist“, beschreibt es auch der 21-jährige Beri. 

Hamudi ist 23 Jahre alt, auch er hat schon negative Erfahrungen mit dem Wort gemacht. „Ich habe den Eindruck, es wird für jeden mit Migrationshintergrund und Bauchtasche genutzt“, sagt er. Das beeinflusst auch seinen Alltag. „Ich laufe öfter mit einer Bauchtasche herum, ich finde es einfach praktisch. Inzwischen verstecke ich die teilweise. Man will sie gar nicht in der Öffentlichkeit tragen, weil man sofort abgestempelt wird.“ Auch eine Gruppe Anfang 20-Jähriger äußert sich ähnlich, möchte aber lieber keine Namen angeben. „Man wird direkt aufs Äußere reduziert, auch wenn man sich zufällig so anzieht“, erklärt einer. „Es passt zu der Stimmung, die hier herrscht, dass Menschen auf einen Stereotypen reduziert werden – dass es die AfD jetzt auch nutzt.“

Instrumentalisierung von Rechts

Wie stark das Wort mittlerweile in rechten Kreisen verbreitet ist, zeigt ein Selbstexperiment: Legt man ein neues Tiktok-Profil an, ohne vorab Interessen festzulegen, und gibt in die Suchleiste das Wort Talahon ein, landet man nach zwei Klicks beim ersten Videozusammenschnitt eines Redners der AfD. Schnell landen immer mehr Videos im Feed, alle drehen sich um das Thema Migration und Einwanderung. User teilen Listen für „Orte ohne Talahons“, Fan-Accounts der AfD werben mit ihrer Abschiebung.

Der Begriff Talahon hat als Jugendwort die Macht zu spalten: zwischen „wir“ und „den anderen“, zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Er steckt Menschen anhand ganz banaler Äußerlichkeiten wie einer Bauchtasche, einer Cap oder einem Seitenscheitel in Schubladen. Schon jetzt erleben Menschen mit Migrationshintergrund, dass Talahon als neuer und dadurch sagbarer Trendbegriff, als Synonym für etablierte rassistische Beleidigungen verwendet wird. 

Langenscheidt reagiert auf die Talahon-Debatte

Wie soll man nun damit umgehen? Die befragten Jugendlichen haben darauf keine einheitliche Antwort. Manche raten davon ab, das Wort überhaupt zu nutzen. Für andere hängt es davon ab, wer es sagt und vor allem wie es gesagt wird.

Langenscheidt teilt auf MADS-Anfrage mit, dass man die Debatte in den sozialen Medien verfolge. „Aus unserer Sicht kann eine endgültige Aussage darüber, ob die Bezeichnung Talahon mit einer positiven oder negativen Konnotation genutzt wird, zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch nicht getroffen werden.“ Der Begriff werde auch genutzt, ohne ihn mit stigmatisierenden Eigenschaften zu verbinden. Zudem wolle man Begriffe nicht voreilig zensieren, „nur weil bestimmte Gruppen sie missbräuchlich verwenden und dadurch eine Agenda verfolgen, die wir explizit nicht teilen“.

Noch bis zum 8. Oktober läuft die Abstimmung, am 19. Oktober wird das Jugendwort des Jahres 2024 bekanntgegeben.

Von Karlotta Hamburg



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