Seite auswählen

Werbung

„Shifting Baselines“: Wie sich die Grundlagen der Migrationsdebatte verschieben

„Shifting Baselines“: Wie sich die Grundlagen der Migrationsdebatte verschieben
Foto: Patrick Pleul/dpa

Die Migrationsdebatte hat sich in den vergangenen Jahren verändert und politische Konsequenzen nach sich gezogen. Journalistin und Autorin Gilda Sahebi hält diese für nicht zielführend – und erklärt, was stattdessen passieren müsste.


An den deutschen Grenzen finden seit Mitte September 2024 Kontrollen statt – als Reaktion auf den Anschlag in Solingen Ende August. Der CDU geht dies nicht weit genug. Die AfD freut sich über hohe Zustimmungswerte bei den vergangenen Landtagswahlen.

Das Konzept der „Shifiting Baselines“ im gesellschaftlichen Sinne beschreibt eine langsame, aber stetige Verschiebung gesellschaftlicher Orientierungspunkte bis hin zur starken Veränderung der kollektiven Beurteilung der Welt. Dieser Prozess lässt sich derzeit auch in der öffentlichen Debatte über Migration in Deutschland beobachten.

Migrationsdebatte: Starke Verschiebung seit 2017

Noch im Jahr 2017 wurden die damaligen Forderungen der AfD zum Umgang mit Geflüchteten vom Großteil der politischen Parteien geächtet. In ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017 erklärt die AfD auf Seite 29: 

„Grenzen müssen umgehend geschlossen werden, um die ungeregelte Massenmigration in unser Land und seine Sozialsysteme (…) zu beenden. (…) Das hohe Niveau der deutschen Sozialleistungen zieht sowohl aus anderen EU-Staaten als auch aus Drittstaaten zahlreiche Armutszuwanderer an. Hierbei werden die Freizügigkeit in der EU bzw. das Asylrecht missbraucht, um sich Zugang zum Sozialsystem zu verschaffen.“

Die damalige CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel betitelte diese Haltung als rassistisch und verachtungswürdig, und auch der einstige Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, verurteilte die „völkische Rhetorik“ der AfD. 

Allerdings scheint sich in der heutigen Debatte – spätestens mit dem Anschlag in Solingen – der Rahmen für Beurteilung und Verurteilung gewandelt zu haben. Der aktuelle CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 2025, Friedrich Merz, spricht sich nach dem Anschlag in Solingen für einen generellen Aufnahmestopp von Menschen aus Syrien und Afghanistan aus und fordert eine Änderung des Aufenthaltsrechts. Kurz darauf erklärt der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auf einem Jahrmarkt in Abensberg, dass man sich nicht mehr sicher sein könne, in welchem Land man eigentlich lebe, da die Migration uns seit Jahren über den Kopf wachse. 

Auch aus der Bundesregierung werden ähnliche Stimmen lauter. Finanzminister Christian Lindner (FDP) schreibt auf X (ehemals Twitter), es dürfe in Sachen Migration keine Denkverbote geben. Gegebenenfalls müsse internationales, europäisches und deutsches Recht geändert werden. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt derweil bereits im Oktober 2023 im „Spiegel“-Interview, dass endlich im großen Stile abgeschoben werden müsse und bekennt sich gegenüber dem „Tagesspiegel“ zur Begrenzung der irregulären Migration. Nach Solingen wird aus der Debatte zunehmend Realpolitik.

Ende August stellte die Bundesregierung das „Asyl- und Sicherheitspaket“ vor. Seit Mitte September treten die darin vorgesehenen Grenzkontrollen zur „Bekämpfung irregulärer Migration“ in Kraft. Neben Grenzkontrollen sieht das Paket verdachtsunabhängige Personenkontrollen sowie Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht vor. So sollen Asylbewerbende, die bereits in einem anderen Land registriert sind, zukünftig kein Geld mehr erhalten, sondern ausschließlich nötigste Sachleistungen. Dasselbe fordert auch die AfD.

Gilda Sahebi: „Aktuelle Maßnahmen nicht angemessen“

Im Gespräch mit MADS bewertet die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi das „Asyl- und Sicherheitspaket“ der Bundesregierung als dem eigentlichen Problem nicht angemessen. Entgegen der Intention führten die Beschlüsse zu mehr Unsicherheit, da beispielsweise wichtige Ressourcen nun zur Grenzschutzarbeit genutzt würden und nicht den Geheimdiensten zur Verfügung stünden. Außerdem gehe die Politik so nicht dem Grund für die Radikalisierung junger Männer nach – stattdessen sollen im kommenden Haushalt sogar die Mittel für Integrationsarbeit gekürzt werden. 

Journalistin und Autorin Gilda Sahebi. Foto: Hannes Leitlein

Die Verschiebung der Debatte zeigt sich auch in den Wahlergebnissen in Thüringen und Brandenburg. Viele junge Menschen geben ihre Stimme der AfD. 38 Prozent der 16- bis 24-Jährigen in Thüringen und 31 Prozent derselben Altersgruppe in Brandenburg halten die AfD für die beste Wahl. Sahebi sieht hier die Stimmung der Gesamtgesellschaft als Ursache. Wenn diese Spaltung und Rassismus in den Debatten normalisiere, müsse man sich nicht wundern, dass dies auch die Jugend tue. 

Widerstand gegen den aktuellen Kurs

Kritische Stimmen erheben sich mittlerweile von mehreren Seiten. In einem Appell an die Bundesregierung sprechen sich 27 Organisationen, darunter unter anderem der Paritätische Gesamtverband und Amnesty International, gegen Zurückweisungen an den Grenzen und für Menschenrechte aus.

Auch aus den Reihen der Regierungsparteien formiert sich zunehmend Widerstand gegen den aktuellen Kurs. Der Vorstand der Grünen Jugend trat zurück und aus der Partei aus, um eine linke Jugendorganisation zu gründen. Den offenen Brief der Initiative „Eintreten für Würde“ unterzeichneten bereits mehr als 13.000 Menschen, unter anderem der Vorsitzende der Jusos, Philipp Türmer. 

Sahebi zufolge brauche es keine Strukturen des Gegeneinanders, keine Mauern. „Das gefährdet die Demokratie zunehmend und leistet dem Autoritären Vorschub.“ Stattdessen müsse die Politik die Probleme der Menschen erkennen. Diese tatsächlichen Belange müssten allerdings klar von den rassistischen abgegrenzt werden und gehörten nicht vermischt, wie es in den aktuellen Debatten geschehe, sagt Sahebi. Nur so könne sich die gesellschaftliche Debatte wieder einpendeln. 

Von Imke Laura Berg


Lies auch:


Über den Autor/die Autorin:

MADS-Team

Unter diesem Namen sammeln wir Beiträge von Gastautorinnen und -autoren, Autorenkollektiven oder freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei MADS. Die Namen des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin stehen unter dem einzelnen Beitrag.

Poste einen Kommentar:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert