Rassismus im Sport – wie tief sitzt das Problem? Ein Experteninterview
Immer wieder werden Schwarze Profifußballer rassistisch beleidigt – wie jüngst Ibrahima Cissé vom FC Schalke 04. Doch das sind nur die sichtbaren Ausprägungen von Rassismus im Sport, sagt Senfo Tonkam. Der Antirassismus-Experte erklärt im MADS-Interview, welche Strukturen dahinterstecken – und warum diese so schwer zu überwinden sind.
Rassistische Beleidigungen und Diskriminierungen sind für viele Profisportler Alltag. Zuletzt musste das der 22-Jährige Innenverteidiger Ibrahima Cissé vom FC Schalke 04 erfahren, der im Auftaktspiel der zweiten Bundesliga erst einen Elfmeter verursachte und später mit einer gelb-roten Karte vom Platz flog. Der NDR berichtete daraufhin von Affenbildern in Cissés Instagram-Kommentaren. Die Kommentare wurden mittlerweile gelöscht, das Problem bleibt.
Der Vorfall rund um das Spiel ist längst kein Einzelfall. Gerade in den sozialen Medien begegnen Schwarzen Profisportlern immer wieder rassistische Beledigungen. Und auch im Breitensport ist Rassismus ein großes Problem. Der Aktivist und Sozialpädagoge Senfo Tonkam leitet das Antirassismus-Projekt des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Er weiß, dass die Beleidigungen nur eine Ausdrucksform von rassistischem Hass ist. Im MADS-Interview erklärt er, warum die Wurzel des Problems viel tiefer sitzt.
Herr Tonkam, Rassismus im Profisport ist immer wieder Thema, nun wieder zum Start der zweiten Bundesliga. Wie verbreitet sind Rassismus und Diskriminierung im Amateur- und Freizeitsport?
Zunächst ist es zu begrüßen, dass die Medien über Rassismus berichten und ihn anprangern, wenn er auftritt. Zu bedauern ist jedoch, dass sie sich leider nur auf die sichtbaren und mehr oder weniger gewalttätigen kollektiven Ausdrucksformen des Rassismus beschränken, wie sie sich leider allzu oft in und um die Stadien oder auf den Straßen manifestieren. Die strukturellen und institutionellen Formen dieses Rassismus werden hingegen kaum thematisiert. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass wichtige Positionen und Funktionen im deutschen Sport in den Händen einer Gruppe liegen, die nicht die ethnische Vielfalt des deutschen Sports repräsentiert. Oder dass die geltenden Gesetze, Politiken und Praktiken in den Bereichen Zuwanderung, Asyl und Flüchtlinge den Zugang ganzer Bevölkerungsgruppen zum Sport negativ beeinflussen. Zum Beispiel, wenn diese so untergebracht sind, dass sie weit von Sportinfrastruktur entfernt sind oder weil die finanziellen Mittel für eine echte Teilhabe nicht zur Verfügung gestellt werden.
„Sport spiegelt, reproduziert, festigt und verewigt die positiven wie auch die negativen Seiten der Gesellschaft.“
Senfo Tonkam, Antirassismus-Experte
Rassismus und Diskriminierung im Amateur- oder Freizeitsport sind leider auch weit verbreitet, obwohl sie nicht so öffentlichkeitswirksam sind wie im Profisport. In diesen Bereichen sind Betroffene leider mit rassistischen Äußerungen, Beleidigungen, Stereotypen, Vorurteilen und Angriffen sowie mit sozialer Ausgrenzung und diskriminierender Benachteiligung bei der Teilnahme an sportlichen Aktivitäten konfrontiert. Ganz zu schweigen von den bereits erwähnten Formen des strukturellen und institutionellen Rassismus. Leider können wir keine Zahlen nennen, die das Ausmaß dieses Phänomens beziffern würden, da es bislang keine Monitoringstelle mit geeigneten Instrumenten gibt, um Rassismus und Diskriminierung im deutschen Amateursport zu erfassen.
Zur Person
Senfo Tonkam ist ehemaliger kamerunischer Studentenaktivist, der im Exil in Deutschland lebt. Er hat unter anderem als Bildungsreferent des Programms „Integration durch Sport-IdS“ in Hamburg, freiberuflicher Trainer für Antirassismus, Sozialpädagoge für Geflüchtete, Übersetzer und Dozent für Antirassismus und Interkulturalität an der Universität Hamburg gearbeitet.
Woher kommt der Rassismus im Sport eigentlich?
Sport ist eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aktivität. Als solche spiegelt, reproduziert, festigt und verewigt er die positiven wie auch die negativen Seiten der Gesellschaft. Man kann in einer Gesellschaft mit einer Geschichte von Rassismus, Kolonialismus, Nationalsozialismus, Diskriminierung und Neokolonialismus nicht erwarten, dass der dort ausgeübte Sport nicht auch von dieser Geschichte und Realität geprägt ist. Es geht also primär nicht um das Fehlverhalten oder Beschimpfungen von Fans auf den Tribünen im Jahr 2023. Es geht um ein systemisches Problem, dessen Wurzeln weiter zurück und tiefer liegen. Dessen Lösung hängt von der Fähigkeit und dem Willen der deutschen Gesellschaft und der Sportinstitutionen ab, sich dieser rassistischen Vergangenheit und Gegenwart zu stellen und sie zu bewältigen.
Außerdem kann der Wettbewerbscharakter des Sports manchmal Spannungen verschärfen und zur Rechtfertigung feindseligen Verhaltens missbraucht werden. Darüber hinaus kann der Druck wirtschaftlicher Interessen eine rassistische Rollenverteilung in der Sportindustrie aufrechterhalten, die ihre Wurzeln in der Sklaverei und in kolonialen und neokolonialen Traditionen hat. Und schließlich können diejenigen, die von den bestehenden Machtstrukturen profitieren, Widerstand gegen Veränderungen leisten. In diesem Sinne sind unser Projekt und andere bereits bestehende Projekte und Aktionen gegen Rassismus im Sport gute Initiativen, die es zu multiplizieren und zu festigen gilt.
Wie wirken sich Rassismus und Diskriminierung über soziale Medien aus?
Soziale Medien können Rassismus und Diskriminierung im Sport sowohl verstärken als auch bekämpfen. Einerseits können soziale Medien Sportlerinnen und Sportler, Fans, Communities und antirassistischen Gruppen eine Plattform bieten, um sich gegen Rassismus auszusprechen, das Bewusstsein zu schärfen und sich für Veränderungen einzusetzen. Sie können aber auch ein Nährboden sein für Hassrede, Online-Belästigung und rassistisches Verhalten. Rassistische Kommentare, Memes und andere beleidigende Inhalte können sich schnell verbreiten und rassistische Einstellungen aufrechterhalten. In sozialen Medien machen Menschen häufig Rassismuserfahrungen. Auch deshalb ist es wichtig, dass Plattformen und Nutzerinnen und Nutzer proaktiv gegen rassistische Inhalte vorgehen und ein rassismusfreies Umfeld fördern.
Gibt es Aussicht auf Besserung?
Es gibt Verbesserungsmöglichkeiten. Zunächst sind die positiven Schritte anzuerkennen, die in den letzten Jahrzehnten zur Bekämpfung von Rassismus im Sport unternommen wurden. In Form von Bundesprogrammen wie „Integration durch Sport (IdS)“ und „Zusammenhalt durch Teilhabe (Z:T)“ oder auch „Demokratie Leben“, sowie ergänzenden antirassistischen und interkulturellen Projekten verschiedener Sportverbände, Landessportbünde und Vereine.
Diese Programme und Projekte gilt es zu festigen und auszubauen, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf Empowerment und Capacity Building für die von Rassismus betroffenen Communities liegen muss. Denn es ist nicht möglich, Rassismus effektiv und erfolgreich zu bekämpfen, wenn ein so großes Ungleichgewicht in Bezug auf Macht, Ressourcen, Strukturen, Infrastruktur, Möglichkeiten, Sichtbarkeit und Kapazitäten zwischen den Akteur*innen aus den von Rassismus betroffenen Communities und ihren nicht von Rassismus betroffenen Mitstreiter*innen besteht.
Zum Projekt
Anfang 2023 haben die Deutsche Sportjugend und der DOSB das gemeinsame Projekt „(Anti-)Rassismus im organisierten Sport“ gestartet. „Das Projekt bietet die große Chance, die Antirassismusarbeit in der Vereins- und Verbandslandschaft nachhaltig zu stärken, Ideen für die Strukturen des organisierten Sports weiterzuentwickeln sowie eine dringend benötigte Bestandsaufnahme zu Rassismus im organisierten Sport zu erstellen“, sagt Projektleiter Senfo Tonkam.
Von Philip Jahn
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