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Psychologe: „Einsamkeit wird ein immer größeres soziales Problem“

Psychologe: „Einsamkeit wird ein immer größeres soziales Problem“
Foto: Kristina Tripkovic/Unsplash

Spätestens seit der COVID-19-Pandemie ist die Einsamkeit junger Menschen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Doch aktuelle Zahlen zeigen, dass das Gefühl von Einsamkeit unter jungen Erwachsenen weiterhin besteht. Experten sagen, dies sei nicht mehr nur auf die Pandemie zurückzuführen. Ein Psychologe gibt Rat, was Betroffene tun können.


Wer sich dazu entschließt über seine Sorgen und Probleme zu sprechen, kann bei Markus (Name geändert) landen. Er ist ehrenamtlicher Helfer bei einer Hilfe-Telefon-Hotline, die sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet. Neben seiner Berufstätigkeit sitzt er regelmäßig am Telefon und hört jungen Menschen zu. Er verrät, dass er zwischen 40 und 50 Jahre alt ist und quasi Mitten im Leben steht. Mit seinem Alter stellt er eine Ausnahme dar, denn die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen seien zwischen 20 und 30 Jahre alt, gingen einem Beruf nach oder seien Studierende.

Foto: Berkeley Communications/Unsplash (Symbolbild)

Gegen Einsamkeit: „Was bewegen können“

Als Markus sich 2020 dazu entschloss, beim Hilfe-Telefon ehrenamtlich tätig zu werden, musste er zunächst eine dreivierteljährige Ausbildung absolvieren. Aber er habe das gerne gemacht, sagt er. Bewerber und deren Motive müssten nunmal „durchleuchtet“ werden. Nun ist er seit drei Jahren dabei. Seine Motivation für die Telefon-Schichten ist denkbar einfach: „Die Erfüllung, gerade wenn man dann so Gespräche hat wo man denkt: Hey, hier haben wir gerade so ein bisschen was bewegen können.“ Aber auch in gelegentlichen Spaß-Anrufen sieht Markus einen Sinn. Auch das sei wichtig, die Anruferinnen und Anrufer hätten vielleicht gerade Langeweile und bräuchten das. Es ist ihm außerdem wichtig zu betonen, dass die Hauptaufgabe der Helfenden das Zuhören ist und nicht belehrend zu werden. „Die Kinder grundsätzlich zu korrigieren, in ihren Ansichten oder ihrem Verhalten“ ist nicht gewünscht. Ziel sei auch „[…] dass sich Kinder emotional aufgehoben fühlen.“

Auf die Nachfrage, wie viele der Anruferinnen und Anrufer wegen Einsamkeit anrufen, schätzt er, dass in einer zweistündigen Schicht ein bis zwei Anrufende von Einsamkeit betroffen seien. „Das ist aber einfach kontinuierlich Thema“ und „relativ konstant“, führt er noch an. Das deckt sich auch mit neusten Studienergebnissen.

Wie einsam sind junge Menschen wirklich?

Laut dem Einsamkeitsbarometer 2024 des Bundesministeriums für Familie haben junge Menschen im Jahr 2020 zum ersten Mal mehr Einsamkeit verspürt als die Altersgruppe der über 75-Jährigen. Die neusten Zahlen stammen hierbei größtenteils aus dem Jahr 2021 und vereinzelt aus 2022.

Fast jeder zweite junge Erwachsene zwischen 16 und 30 Jahren fühlt sich einsam. Zu diesem Ergebnis kommt die Bertelsmann Stiftung bei einer repräsentativen Umfrage aus diesem Jahr mit 2532 Teilnehmenden. Demnach fühlen sich 35 Prozent „moderat einsam“ und zehn Prozent der befragten jungen Menschen „stark einsam“.

Dass diese Zahlen nicht zurück gehen, lässt folgenden Schluss zu: „Einsamkeit ist längst nicht mehr ein Phänomen, das ausschließlich ältere Menschen betrifft. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass auch junge Menschen zunehmend von Einsamkeit betroffen sind und damit eine neue Risikogruppe darstellen.“, so wird Frau Dr. Anja Langness, Expertin für Jugend und Gesundheit der Bertelsmann Stiftung auf der hauseigenen Webseite zitiert.

Das ist die Schlussfolgerung

Es lohnt sich also, eine genauere Unterscheidung zu treffen. Sowohl die Daten des Einsamkeitsbarometers 2024 des Bundesministeriums für Familie, als auch die der Bertelsmann Stiftung kommen zu folgenden Schlüssen:

  • Frauen sind eher einsam als Männer
  • junge (und alte) Menschen sind am meisten von Einsamkeit betroffen
  • Armut, Arbeitslosigkeit und Migration können das Einsamkeitsempfinden verstärken
  • Je höher der Bildungsgrad, desto weniger Einsamkeit.
  • soziale Teilhabe und ein gesundes soziales Umfeld wirken Einsamkeit entgegen

Die Bedeutung für unsere demokratische Gesellschaft

Des Weiteren zeigt das Einsamkeitsbarometer 2024, dass 2021 der Anteil der Menschen mit Verschwörungsglauben bei den Einsamen um 8,83 % höher ist als bei denen, die keine erhöhte Einsamkeitsbelastung angegeben haben. Das belegen auch einzelne Abfragen zum Thema Vertrauen in politische Organisationen, die auf Seite 90 des statistischen Anhangs der Bertelsmann-Studie zu finden sind.

Zuletzt kann Einsamkeit laut Bundesministerium für Familie zur Belastung der Gesundheit in physischer und psychischer Natur führen.

Foto: Unsplash/Youssef Naddam

Wie belastend ist die Einsamkeit, Herr Doktor Krippl?

Dass Einsamkeit gesundheitliche Probleme verursachen kann, ist nicht neu. Martin Krippl, Dozent für Psychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, erklärt, wie Betroffene damit umgehen können.

Herr Doktor Krippl, warum fühlen sich in den letzten Jahren immer mehr junge Menschen einsam?

Erst einmal würde ich grundsätzlich sagen, dass Einsamkeit und sich immer mal wieder einsam zu fühlen etwas Normales ist. Man nennt das auch existentielle Einsamkeit. Jeder weiß, dass er irgendwann sterben wird und das allein kann natürlich zum Einsamkeitsgefühl führen. Ich denke wir leben in einer Zeit, in der es viele Unsicherheiten gibt, die größer sind als früher. Die betreffen natürlich die jungen Menschen insofern mehr, als dass sie noch ein längeres Leben vor sich haben. Sie sehen, dass die Gefahr groß ist, dass Wohlstand verloren geht, dass Deutschland vielleicht wieder in kriegerische Auseinandersetzungen kommt. Dann kommt die Klimakrise dazu. Es gibt ganz viele große Krisen, die gleichzeitig auftreten. Covid kommt auch noch dazu und hat wahrscheinlich einen nachhaltigen sozialen Schaden speziell bei Jugendlichen erzeugt. Weil die sozialen Kontakte stark reduziert wurden, hat das meines Erachtens den Effekt, dass das Vertrauen in andere Menschen sich reduziert hat. Wenn man weniger Kontakt zu anderen hat, dann kann man diese natürlich viel weniger einschätzen.

Aber gilt das nicht für alle Menschen?

Als junger Mensch hat man noch nicht so viele langfristige Beziehungen, die einem mehr das Gefühl von Stabilität geben. Das heißt jetzt nicht, dass sich Ältere nicht auch einsam fühlen. Nur vielleicht aus anderen Gründen. Ich denke, grundsätzlich haben junge Menschen mehr Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen und auch Freundschaften zu entwickeln. Diese entstehen meist in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium. Das heißt, je älter man wird, desto weniger Chancen hat man eigentlich, Freundschaften zu entwickeln. Grundsätzlich haben junge Menschen also gute Möglichkeiten. Aber ich denke, diese multiplen Krisen haben dazu geführt, dass sich weniger stabile Beziehungen entwickeln konnten. Denn Social Media kann echte Kontakte nicht komplett ersetzten.

Wie erkenne ich, dass ich einsam bin?

Indem ich mich alleine fühle und nicht das Gefühl habe, da ist jemand, den ich gleich anrufen kann oder mit dem ich gleich über alles, was mir auf der Seele brennt, sprechen kann.

Zwischenfrage: Was ist der Unterschied zwischen sich alleine fühlen und einsam sein?

Alleine sein ist etwas Objektives, und sich einsam fühlen ist ein Gefühl. Ich kann unter Menschen sein und mich trotzdem einsam fühlen. In dem Moment, in dem ich keine emotionale oder soziale Verbindung zu den anderen habe, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass ich zu dieser Gruppe gehöre, dass diese Gruppe mich als gleichwertigen Teil ansieht, dann fühle ich mich einsam.

Was mache ich in so einer Situation?

Wenn das ein dauerhafter Zustand ist, dann entsteht natürlich das Problem, dass man leicht in Depressionen verfallen kann. Dann wäre es wichtig, dass man versucht, auf andere zuzugehen und sich mitzuteilen, auch seinen negativen seelischen Zustand. Das kann im Arbeits-, Schul-, Universitäts- oder Ausbildungskontext sein. Dass man einfach mal Small-Talk macht und dann immer wieder auf die Menschen zugeht. Dann können sich langsam Beziehungen entwickeln. Man kann außerdem versuchen, in Vereine zu gehen. Vereine haben einen großen Vorteil, denn man hat an sich schon ein gemeinsames Interessensgebiet, und man muss keine riesen Hürden überwinden, um jemand Fremden anzusprechen. Das kann zum Beispiel beim Sport sein, denn Sport hat noch den Vorteil, dass er die Stimmung anhebt. Andere Möglichkeiten sind ehrenamtliche Tätigkeiten, wodurch man sich automatisch wertgeschätzt fühlt. Wenn das alles nicht geht, dann gibt es psychologische Verfahren, um sich zu entspannen. Man kann Meditationen durchführen oder in die Natur gehen. Wenn das alles nicht hilft, dann braucht es eine langfristige kognitive Verhaltenstherapie.

Dr. Martin Krippl, Foto: privat

Zur Person

Martin Krippl ist seit 2009 Dozent und Wissenschaftler an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sein Hauptthema ist Emotion und Motivation, außerdem ist er Angewandter Sportpsychologe. 1972 in Weißenburg in Bayern geboren, studierte Krippl Psychologie in Potsdam und promovierte in Mannheim.

Welche gesundheitlichen und sozialen Probleme können bei Einsamkeit auftreten?

Einsamkeit wird ein immer größeres soziales Problem. Ich habe gerade erst dazu gelesen, dass Leute die einsam sind, eher andere abwerten und zu extremeren politischen Ansichten neigen. Grundsätzlich bedeutet starke Einsamkeit Ähnliches wie Depressionen, nämlich eine Überaktivität der sogenannten HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) und das hat multiple negative Auswirkungen. Zum Beispiel, dass man anfälliger wird für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Blutdruck erhöht sich, das Immunsystem wird unterdrückt, der Schlaf-Wach-Rhythmus wird gestört und Gewichtszunahme kann die Folge sein. Ein erhöhtes Diabetes-Typ-II-Risko zählt auch dazu, und im Gehirn kann es sogar zu Hippocampus-Schädigungen kommen, die Gedächtnisprobleme zur Folge haben.  

Wie kann ich mir helfen oder helfen lassen?

Sich selbst helfen ist immer das Beste. Das erhöht grundsätzlich die Stimmung, weil man sich selbstwirksam fühlt. Sich selbst helfen heißt, sich zu überwinden und auf andere zuzugehen. Aus dem eigenen selbstgeschaffenen Gefängnis auszubrechen ist ganz wichtig. Aus sich raus gehen, versuchen, Kontakte zu knüpfen, und sich helfen lassen. Überhaupt zuzulassen, das eigene negative Befinden mitzuteilen, wenn einen jemand danach fragt

Sind manche Menschen schneller einsam als andere?

Ja, sicher. Ich denke, da hat Freud einen großen Punkt gemacht, dass je früher etwas im Leben passiert, desto gravierender und langfristiger sind die Auswirkungen. Wenn ich von klein auf das Problem hatte, dass ich in der Gruppe ausgegrenzt wurde, dann hat das mit hoher Wahrscheinlichkeit das ganze Leben eine Auswirkung. Jedenfalls wenn ich es nicht irgendwie geschafft habe, das zu lösen. Aber wahrscheinlich hat jede frühe Ausgrenzung oder das Gefühl, überhaupt einsam zu sein, langfristige Auswirkungen. Ist man in einer stabileren Umgebung aufgewachsen, mit einer starken Bindung zu den Eltern, dann schützt das natürlich vor diesem Gefühl. Ein weiteres Problem ist, dass man heutzutage immer sehr flexibel sein muss. Wenn man zum Beispiel einen bestimmten Job annehmen will, muss man oft wegziehen. Der Begriff Heimweh bedeutet auch, neben dem allgemeinen Fehlen der gewohnten Umgebung, dass man die Leute, die einem das Gefühl von sozialer Sicherheit geben, nicht um sich herum hat. Und das ist am Ende auch Einsamkeit.

Wenn Du Hilfe brauchst:

Nummer gegen Kummer: Kinder- und Jugendtelefon 116 111
Telefonseelsorge: 0800 1110111 oder 0800 1110222

Möglichkeiten mit Menschen in Kontakt zu treten:

Es gibt diverse Portale und Plattformen in den sozialen Medien, um Menschen kennen zu lernen. Dabei ist aber immer Vorsicht geboten, denn es handelt sich um fremde Menschen, deren Absichten nur schwer abzuschätzen sind.

Von Anna Scharpmann


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Über den Autor/die Autorin:

MADS-Team

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