Post-Concert-Depression: Wenn die Musik verstummt
Ein Konzertbesuch ist ein Auf und Ab der Gefühle. Wenn Fans sich danach traurig und leer fühlen, spricht man neuerdings von einer Post-Concert-Depression. Doch ist dieses Phänomen mit einer klinischen Depression zu vergleichen?
Mit zwei Stunden Schlaf und einem Kaffee in der Hand taucht Wiebke Rose zu ihrem Seminar an der Hochschule Hannover auf. Den Vormittag hinter sich gebracht, sinkt sie erschöpft in das Polster der Sitzecke. Vergangene Nacht war sie auf einem Konzert von Chappell Roan, die auf ihrer „The Midwest Princess Tour“ Halt in Berlin machte. Nun erzählt Wiebke von ihren Konzert-Highlights – die Outfits, die emotionale Stimmung, davon, ihre Lieblingssongs das erste Mal live zu hören. Während sie ihre Erlebnisse schildert, klingt ihre Stimme müde. Wie Feiernde nach einer Nacht mit zu viel Alkohol und wenig Schlaf unter einem Hangover leiden, leidet Wiebke unter einer Post-Concert-Depression.
Was das genau ist, weiß der Berliner Psychoanalytiker Tarek Hildebrandt: „Es gibt keine psychologische oder gar psychoanalytische Definition des Begriffs, aber in meiner Wahrnehmung handelt es sich vor allem um Traurigkeits- und Leeregefühle nach Konzerten oder Festivals.“
Vom Höhenflug zum Seelentief
Das Gefühl kennt Wiebke als regelmäßige Konzertgängerin. Mit selbstgebastelten Freundschaftsarmbändern und einem sorgfältig ausgewählten Outfit aus rotem Top, Rock und Netzstrumpfhose machte sie sich am Tag zuvor auf den Weg zum Konzert. Die Vorfreude stieg. „Ich konnte es kaum erwarten, die Atmosphäre in der Arena zu erleben und die Songs zu hören, die ich seit Wochen rauf und runter höre“, erzählte sie. Doch was kommt danach? Für Wiebke bedeutet das Ende eines Konzerts vor allem eines: Stille. „Die Musik verstummt, die Fans mit ihren ausgefallenen Outfits verschwinden.“
Hildebrandt sieht darin zunächst etwas Positives: „Wenn Konzerte sich so stark vom Alltag abheben, dass man wehmütig zurückdenkt, haben die Stars einen guten Job gemacht.“ Er erklärt weiter: „Mit dem Star verschwindet jedoch auch ein geliebtes Objekt. Diese Lücke müssen Fans erst einmal verarbeiten.“
Doch ein Konzert lasse nicht nur Fan und Star aufeinandertreffen, sondern auch Fans miteinander eine Gemeinschaft erleben, betont Sophie Einwächter, Medienwissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg. Diese Interaktion zwischen Fan und Star sowie Fan und Fangemeinschaft mache ein Konzert zu einer wichtigen Begegnungsstätte. „Zu dieser Einzigartigkeit gehört aber auch die Flüchtigkeit des Moments, und deswegen kann sich zum Beispiel Trauer einstellen, wenn alles vorbei ist.“
Körperlich und emotional herausfordernd
Das Gefühl, dass alles vorbei ist, hat Wiebke nun auch, als sie sich müde die Stirn reibt. Besonders intensiv sei es nach einem Konzert der Sängerin Olivia Rodrigo in Hamburg gewesen: „Als ich irgendwann nachmittags am nächsten Tag aufgewacht bin, konnte ich gar nicht wirklich glauben, dass das Konzert vorbei ist.“ Was die Konzerte von Olivia Rodrigo und Chappell Roan gemeinsam hatten: Sie waren fordernd für die Studentin. Zugfahrten nach Hamburg und Berlin, Sing- und Tanzmarathons und eine Heimreise tief in der Nacht – ein Konzert ist nicht nur psychisch, sondern auch körperlich anstrengend. „Da fällt man seelisch in ein Loch, weil nach einem großen Glücksgefühl eine Form von Ernüchterung einsetzen kann“, erklärt Einwächter. Das Gefühl verspüren allerdings nicht alle. „Manche berichten, wie ihnen ein tolles Konzert wochenlang Kraft gibt.“
Die Intensität der Post-Concert-Depression hängt davon ab, wie stark und lange die Vorfreude war. Soziale Medien ermöglichen es den Fans zum Beispiel, besonders tief in diese Vorfreude einzutauchen. Auch die Fähigkeit, sich nach dem Konzert wieder in den Alltag einzufinden, spielt eine Rolle.
Post-Concert-Depression bekämpfen
Berichte von Trauer- und Leeregefühle nach Konzerten lassen sich ebenfalls zahlreich in den sozialen Medien finden. „Wie soll ich nach diesem Konzert mein Leben normal weiterführen?“, heißt es in Videos – im Hintergrund das leere Stadion und zertretenes Konfetti auf dem Boden.
Ist eine Post-Concert-Depression wirklich mit einer Depression zu vergleichen? Hildebrandt ist skeptisch. „Der Begriff trivialisiert die klinische Depression, die oft mit lähmenden Selbstwert- und Schuldgefühlen einhergeht und im schlimmsten Fall zum Suizid führen kann.“ Von einer Post-Concert-Sadness oder einem Post-Concert-Down zu sprechen sei aus seiner Sicht passender. Auch Einwächter betont, dass es sich bei der Trauer nach dem Konzert um ein vorübergehendes Gefühl handle.
Kann man sich auf dieses Down vorbereiten? Wiebke weiß es nicht genau. „Vielleicht höchstens, indem man nicht alles an diesen Tag hängt“, sagt sie. Um das Gefühl nach dem Konzert zu bekämpfen, gibt es noch andere Strategien – Einwächter gibt Tipps: „Sich ausschlafen, erholen, sich mit netten Menschen umgeben und die inneren wie äußeren Kraftreserven wieder aufbauen, damit das Schöne, was man erlebt hat, wieder stärker im Vordergrund steht und nicht nur der Verlust.“
Von Luise Moormann
Lies auch: