Neugierig auf Naturwissenschaften: So sollen Schüler in MV für Mint-Fächer begeistert werden
Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik – für technische Berufe werden die sogenannten Mint-Fächer gebraucht. Doch die brauchen eine frischere Vermittlung, um Fachkräfte für die Wirtschaft zu bekommen, sagen Fachleute. Wie das in MV geht.
Deutlich sind die vier Luftblasen, der Darm und die Nerven einer lebenden Büschelmückenlarve auf dem Bildschirm zu erkennen. Hanna und Lennart gehen in die 5. Klasse der Christophorusschule in Rostock und sitzen vor einem Hochleistungsforschungsmikroskop, das die Körperteile der Mückenlarve extrem sichtbar zeigt. „Uns macht das hier richtig Spaß“, sagt die Zehnjährige. Auch weil man durch die Beschäftigung mit der Biologie vieles besser verstehe, etwa den Aufbau von Lebewesen.
Jeden Freitag mikroskopieren die beiden Schüler in einer Gruppe mit anderen ihres Jahrgangs. Oder sie bauen beispielsweise kleine Roboter. Dabei werden sie begleitet von einem Team von Wissenschaftlern vom Schülerforschungszentrum Rostock: Mikro-Mint. Das Labor hat einen Raum in der Schule zur Verfügung gestellt bekommen, in dem die Technik steht – Kameras für hochauflösende Bilder, Minicomputer, 3-D-Drucker und Mikrocontroller.
Technischer Fachkräftemangel ist groß
Prof. Dieter Weiss (76) ist der Spiritus Rector von Mikro-Mint. Er sagt: „Hier gibt es Einblicke in naturwissenschaftlich-technische Forschungsprozesse, bei denen der Unterrichtsstoff praktisch angewendet wird.“ Die Mint-Fächer spielen eine entscheidende Rolle: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik.
Prof. Dieter Weiss. Quelle: Martin Börner
Die Arbeit des Mint-Labors ist ein elementarer Baustein, um Fachkräfte für die Zukunft in einer komplexen, technisierten Welt heranzubilden. Der Fachkräftemangel in der Industrie sowie im gesamten technischen Gewerbe ist groß. Bei der Besetzung von Stellen in den Mint-Berufen gibt es besonders viele Schwierigkeiten. Beispielsweise stehen Mechatroniker, Ingenieure oder Informatiker nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Technische Berufe liegen offensichtlich nicht im Trend, zu wenige junge Leute interessieren sich für eine Ausbildung, in der Mint-Kenntnisse grundlegend sind.
Nicht jeder muss studieren
Prof. Ingo Müller von der Hochschule Wismar sagt, der Stellenwert der Mint-Fächer müsse bereits in der Schule gestärkt werden, und fragt sich, warum es für Schüler die Möglichkeit gibt, Chemie, Biologie oder Physik abzuwählen. „Man muss die Bildung wieder stärker mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Inhalten stärken“, sagt er. Denn die Grundkenntnisse reichen häufig für ein technisches Studium nicht aus „und wir bieten deshalb schon Brückenkurse an, um die Studenten fit zu machen“.
Obwohl viele mittelständische Unternehmen häufig bei Hochschulen beispielsweise nach Ingenieuren anfragen und die Aussichten für Absolventen vielversprechend sind, sinken die Studentenzahlen in den Bereichen, wo Mint-Fähigkeiten Voraussetzung sind. „Es muss auch nicht jeder studieren, die Wirtschaft sucht auch dringend gute Facharbeiter“, weiß der Fachmann.
Mint-Lehrpläne sind zu voll
In der 11. und 12. Klasse muss ein Schüler mindestens eine Naturwissenschaft belegen, um das Abitur ablegen zu können. Von Berichten von Lehrern ist bekannt, dass die jungen Leute, wenn sie etwas abwählen, meist auf Chemie verzichten. Biologie ist noch einigermaßen beliebt, Physik eher nicht.
Warum die Mint-Fächer nicht besonders beliebt sind, versucht eine Schulleiterin, die nicht namentlich genannt werden möchte, zu erklären: „Die Lehrpläne der Mint-Fächer sind sehr voll – sie müssten dringend entrümpelt werden.“ Es gebe wenig Spielraum und Freiheiten für die Mint-Lehrer, weil die Stoffinhalte aufeinander aufbauen. „Schüler wollen aber mitgenommen werden.“ Hinzu komme bei einem Teil der Mint-Lehrer eine gewisse Behäbigkeit. „Sie sind oft nicht offen für neue Lernformen und freie Arbeit ist bei ihnen eher selten.“
IHK: Mehr Praxisbezug im Unterricht
Berit Heintz, Geschäftsbereichsleiterin Aus- und Weiterbildung bei der Industrie- und Handelskammer zu Rostock, weiß: „Wie die Mint-Fächer in den Schulen vermittelt werden, ist für viele Schüler kompliziert und vielleicht auch langweilig.“ Es müsste im Unterricht mehr praxisbezogene Beispiele geben, auf die sich das vermittelte Wissen anwenden ließe, überlegt sie. „Junge Leute wollen erfahren, was sie mit dem Gelernten bewirken können, wozu man es brauche – die Sinnhaftigkeit ist wichtig.“ Stichworte seien etwa Klimaschutz oder Umwelttechnologien. Die Möglichkeit der Abwahl von naturwissenschaftlichen Fächern hält Berit Heintz für ein überholtes Modell. „Abitur bedeutet umfassende Allgemeinbildung und nicht Spezialisierung.“
Zwar mache sich die IHK noch keine Sorgen um den Nachwuchs in den technisch-gewerblichen Berufen, jedoch sind die sogenannten Engpassberufe wie Fachinformatiker bekannt. „Aber es muss mehr für Mint-Berufe getan werden“, sagt Berit Heintz. Schülerlabore, wie etwa am Institut für Physik der Uni Rostock, seien eine Möglichkeit. Naturwissenschaftliche Phänomene könnten ebenso mit der Unterstützung von Einrichtungen wie Museen nähergebracht werden.
„Phantechnikum“: Netzwerk zur Förderung technischer Berufe
Im Technischen Landesmuseum in Wismar ist man dafür schon lange aufgeschlossen. Dr. Maik Springmann, Leiter des „Phantechnikums“ sagt: „Wir erleben eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen technischen Interesse bei jungen Leuten und der Wahrnehmung der Mint-Fächer in der Schule. Da gibt es ein Missverhältnis.“ Er führe das auf einen zu abstrakten, zu theoretischen und zu formelhaften Unterricht zurück, wie er ihn selbst früher erlebt habe. „Dadurch gehe die Neugier auf Entdeckungen bei Kindern zurück.“ Obwohl das Interesse bei Nachwuchs aus allen Schichten und Milieus vorhanden sei.
Dr. Maik-Jens Springmann ist Museumsdirektor im Technischen Landesmuseum Wismar. Quelle: Dietmar Lilienthal
Schulklassen seien regelmäßig im „Phantechnikum“ in extra dafür ausgestatteten Räumen zu Gast. Ebenso wird hier Pädagogen und Erziehern erläutert, wie kleine Experimente durchgeführt werden, um Kindern Technik zu erklären. Über solche praktischen Umsetzungen könne man zu theoretischen Hintergründen kommen. „Die Frage, wie Mint-Fächer vermittelt werden, ist entscheidend“, betont Dr. Springmann. „Wir wollen deshalb ein Netzwerk zur Förderung der Attraktivität technischer Berufe und Studiengänge etablieren“, sagt der Leiter des Museums. Denn es fehle häufig eine Brücke zum realen Leben bei den Mint-Fächern.
Kranbauer Liebherr geht auf Schüler zu
„Das Basiswissen in den Mint-Fächern gehört zu einer abgerundeten Bildung – auch der mitunter anstrengende Wissenserwerb und die Prüfungen“, sagt Ralf Harder, Leiter der Liebherr-Akademie. Der Kranbauer ist stets auf der Suche nach Facharbeitern und Ingenieuren und informiert über seine Berufsbilder an Schulen und in den Werkstätten des Rostocker Betriebes. „Denn viele Jugendliche wissen nicht, was verlangt wird.“ Auch werden Praktika individuell zugeschnitten, um junge Leute für Technik zu begeistern.
Das Interesse an technischen Berufen lasse dennoch nach, beobachtet Harder, obgleich auch Liebherr, wie viele anderen Firmen, gute Ausbildungsbedingungen und Perspektiven biete. Abzulesen ist das Interesse oder Desinteresse an Berufen unter anderem an der Liste der beliebtesten Ausbildungsberufe. So kommt laut IHK zu Rostock der erste technische Beruf erst an achter Stelle, Fachinformatiker, der Elektroniker an zehnter.
Schon in der Grundschule Defizite
Das Mint-Nachwuchsbarometer 2021 (Körber-Stiftung, IPN, Acatech) kommt zu dem Schluss, dass gut ein Viertel der Grundschüler „mit unzureichenden mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen auf die weiterführende Schule wechselt“. Ebenso wird konstatiert, dass in keinem Bundesland, außer Sachsen-Anhalt, ein eigenständiges Schulfach Technik für alle Klassenstufen angeboten wird. So würde technische Bildung weiterhin ein Schattendasein an den meisten Schulen führen.
Hanna und Lennart betrachten im Schülerforschungszentrum gerade den Kopf der Büschelmückenlarve. Der elfjährige Lennart sagt: „Ich möchte vielleicht Kameramann oder IT-Techniker werden.“ Hanna Bibliothekarin oder Meeresbiologin. Beide mögen die Mathematik, aber auch Sport. Hanna sagt: „Ich habe auch schon Fische seziert – total interessant.“ Lennart denkt ans Programmieren. „Dafür ist Mathe wichtig“, fasst er kurz zusammen. Dann zuckt die Mückenlarve unter den „Augen“ des Mikroskops und der Kinder. Jetzt ist ihr winziger Magen unter den beiden oberen Luftblasen zu sehen.
Noch zu wenig Frauen in Mint-Berufen
Seit dem Schuljahr 2014/15 nimmt die Anzahl der Jugendlichen ab, die ein Mint-Fach auf erhöhtem Anforderungsniveau wählen.
Mädchen sind bei Leistungskursen in Informatik (15 Prozent) und Physik (25 Prozent) stets weniger vertreten als Jungs, aber in Biologie kommen sie auf 61 Prozent. In Chemie kommen Mädchen auf 45 Prozent, in Mathe auf 46.
Schüler in Deutschland haben im Schnitt 3,25 Wochenstunde Mathe und liegen damit auf dem Niveau aller EU-Staaten. Die meisten Mathe-Stunden haben die japanischen Jugendlichen: fünf pro Woche.
Jeder fünfte Abiturient verfügt beim Start ins Studium über geringe Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien.
Eine Mint-Ausbildung nehmen nur elf Prozent der jungen Frauen auf. Generell wird jedes fünfte Mint-Ausbildungsverhältnis abgebrochen. Dazu gehören beispielsweise Schiffsmechaniker, Softwareentwickler, Chemielaboranten, Optiker, Biotechnologen oder Zahntechniker.
Mint-Studiengänge machen bei Studienanfängern einen Anteil von 38 Prozent aus.
Quelle: Mint-Nachwuchsbarometer 2021
Von Klaus Amberger