Mein fremdes Herz: Über das Leben mit einem Spenderorgan
Jasmin Ehrich war zwölf, als sie ein Spenderorgan brauchte. Fünf Jahre später erfüllte sich ihr Traum – doch mit dem neuen Leben kamen auch neue Ängste.
„Eigentlich müsste da jetzt ein Pflaster drauf“, sagt Jasmin Ehrich trotzig und zieht die Haut an ihrem Finger so auseinander, dass ein schmaler Spalt entsteht. „Das hält aber eh nicht.“ Der kleine Schnitt an ihrem Finger sieht harmlos aus. Für das 19-jährige Mädchen aus Gleidingen bei Hannover kann er lebensgefährlich werden.
Denn vor zwei Jahren wurde Jasmins Herz durch ein Spenderorgan ersetzt. Damit das fremde Herz nicht abgestoßen wird, muss sie Tabletten nehmen, die ihr Immunsystem schwächen – und die Jasmin anfälliger für Keime machen. Auch Ungekochtes wie Salami oder Lachs darf sie nicht essen, Kraftsport treiben ebenso wenig.
Vor allem ein Teenie
Über ihre Transplantation zu sprechen fällt ihr schwer. Jasmin sitzt im Wohnzimmer ihres Elternhauses, schaut auf den Boden, ihre kräftige Stimme wird leise. Immer wieder lenkt sie vom Thema ab, wirft ihrem Hund Gismo den Ball weg oder schielt auf ihr dauerblinkendes Smartphone.
Sie sagt lieber zu wenig als zu viel. Direkten Fragen weicht sie aus, erzählt stattdessen von ihren Lieblings-Anime-Charakteren und Mangas. Dann sprüht sie vor Begeisterung, zählt breit lächelnd jedes Detail auf, zeigt stolz selbst gemalte Fan-Art, Cosplay-Kostüme und Tik-Tok-Videos.
Die dunklen Haare sind auf einer Seite kurz rasiert, und die Sweatshirtjacke ist eigentlich zu groß für das zierliche, knapp 1,60 Meter große Mädchen. „Mama musste sich auch erst mal dran gewöhnen, dass ich mich gerade anziehe wie ein Junge“, sagt Jasmin grinsend. Ihr Zimmer ist fast ganz in Schwarz gehalten, im Regal stehen Animefiguren. „Da zocke ich immer“, sagt Jasmin und zeigt auf ihr Sofa – „am liebsten Fortnite“. Was man eben so macht als Teenie.
Silvester im Krankenhaus
Allerdings hat Jasmin schon sehr viel mehr erlebt als Gleichaltrige: Seit ihrer Geburt leidet sie am Hypoplastischen Linksherzsyndrom. Ihre linke Herzklappe ist verkümmert, Verbindungen zu lebensnotwendigen Organen fehlen. Nur weil ein Arzt sie acht Tage nach ihrer Geburt in Tübingen operierte, erlebte Jasmin überhaupt ihren ersten Geburtstag. Krankenhausaufenthalte und stundenlange Operationen prägen ihre Kindheit.
In der Schule wird sie gemobbt, Freunde findet sie erst, als sie auf eine Behindertenschule wechselt. Bei Facebook tauscht sie sich mit Leidensgenossen aus, schließt Freundschaften. Mit zwölf Jahren feiert sie Silvester in der Klinik. Ihr Körper hat wieder zu viel Wasser eingelagert – eine Nebenwirkung ihres kranken Herzens. Das ist schon oft passiert, aber die Prognose ist dieses Mal ein Schock für die Familie: Die Ärzte geben Jasmin nur noch sechs Monate. Melanie Ehrich-Wolter und ihrem Mann raten sie, Abschied zu nehmen.
10 000 Menschen warten noch
Jasmin kommt 2012 auf die Warteliste für ein Spenderorgan – genau in dem Jahr, in dem viele nach einem Skandal um manipulierte Listen das Vertrauen in die Organspende verlieren. Die Spenderzahlen sinken. Erst 2018 steigen sie wieder an, um 20 Prozent. Dennoch warten laut dem Jahresbericht der Deutschen Stiftung Organtransplantation auch 2018 noch rund 10 000 Menschen auf ein lebensrettendes Organ – 1200 von ihnen auf ein Herz.
Dabei ist die Bereitschaft zu spenden da: 76 Prozent gaben in einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) an, dass sie einer Organspende nach dem Tod positiv gegenüberstünden. Einen Organspendeausweis besitzen allerdings nur 32 Prozent der Befragten. Gesundheitsminister Jens Spahn will deswegen die Widerspruchslösung einführen. Jeder Bürger wäre dann automatisch ein Organspender – es sei denn, er widerspricht.
Erlösender Anruf fast verpasst
Fünf Jahre vergehen, bis Jasmin von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) den erlösenden Anruf bekommt: Es gibt ein Spenderherz. Fünf Jahre, in denen Jasmins Mutter selten durchschläft, weil sie nicht verpassen will, wenn das Handy neben ihrem Bett klingelt. Fünf Jahre, in denen die Familie nicht in den Urlaub fahren darf – denn sobald es ein Spenderorgan gibt, zählt jede Minute. Ein Zustand, der so unkontrollierbar wie unabsehbar ist. Die Belastung ist groß. „Wir konnten uns das nicht vorstellen, aber irgendwann wird der Wartezustand zur Normalität“, erzählt Melanie Ehrich-Wolter.
So normal, dass sie den Anruf in der Nacht zum 20. Februar 2017 fast verpasst. „Ich habe das Handy nicht gehört. Mein Mann musste mich wecken, sonst hätten sie den Nächsten in der Liste angerufen“, sagt die Mutter und lacht fast erleichtert. Jasmin reagiert aufgewühlt: „Ich bin hoch und runter gerannt und wusste nicht, wo ich mit mir hinsoll“, sagt sie. 22 Stunden dauert es von da an noch, bis sie alles überstanden hat.
Nicht nur ein Lottogewinn
Was wie ein Lotteriegewinn klingt, war für Jasmin gar nicht so leicht zu verarbeiten: „Jasmin war nach der Transplantation sehr in sich gekehrt, hat nichts mehr gegessen und die Medikamente weggelassen“, erzählt Melanie Ehrich-Wolter. „Niemand kam mehr an sie ran.“
Überlebe ich die nächsten Tage oder Wochen? Schafft mein Herz eine schwere Krankheit? Ist ein Mensch gestorben, damit ich weiterleben kann? Menschen, die ein Organ brauchen oder bekommen haben, kämpfen mit vielen Ängsten und Unsicherheiten. Probleme, derer sich die Kliniken oft kaum bewusst sind: „Es gibt zu wenig psychologische Betreuung für Transplantierte. Die Ängste, die man hat, interessieren keinen – weder vorher noch hinterher“, erzählt Melanie Ehrich-Wolter.
Das sagen auch Experten wie Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der MHH. Und das kann weitreichende Folgen haben: „Unbehandelte psychische Probleme können mitverantwortlich dafür sein, wenn das transplantierte Organ abgestoßen wird“, sagte de Zwaan kürzlich auf einem Experten-Kongress. Deswegen arbeitet sie an einer Leitlinie, um die psychosoziale Betreuung von Transplantierten zu verbessern.
Animes auf dem OP-Bildschirm
Obwohl Jasmin schon viel Zeit im Krankenhaus verbracht hat, ist sie gerne dort: „Das Krankenhaus ist mein zweites Zuhause“, sagt sie. Einmal im Jahr muss sie zur Herzkatheteruntersuchung, diesen Monat ist es wieder so weit. Angst hat sie davor nicht: „Das ist nur eine Kleinst-OP. Ich könnte dabei auch wach bleiben. Angst hätte ich nur, wenn man mir jetzt sagen würde, du brauchst wieder ein neues Herz.“
Wie normal Eingriffe für Jasmin inzwischen sind, zeigen pragmatische Ideen wie diese: „Ich würde am liebsten auf einem der OP-Bildschirme Jump-Scare-Animes auf Netflix streamen“, sagt sie lachend.
Wer ihr das Herz gespendet hat, weiß Jasmin nicht. Nur, dass der Spender oder die Spenderin aus Europa kommt. Im Februar hat Jasmin ihren zweiten Herzgeburtstag gefeiert. Die zwei Jahre, in denen sie keinen Kontakt zur Familie ihres Spenders aufnehmen durfte, sind vorbei. Zusammen mit ihrer Mutter will sie sich nun mit einem Brief bedanken.
Ihre Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten musste Jasmin abbrechen, als das Spenderherz kam. Besonders das erste Jahr nach der Transplantation musste sie aufpassen, sich nicht mit Keimen zu infizieren. Auch jetzt sind Berufe mit hoher Infektionsgefahr wie etwa Köchin keine Option für sie. Bei ihrem FSJ, das sie gerade im Verwaltungsbüro der MHH macht, ist das kein Problem. Und es gibt eine neue Perspektive für Jasmin: Im August fängt sie eine Ausbildung zur Kauffrau im Büromanagement an.