Kommentar: Der Fall Imane Khelif und die traurige Lehre aus den Olympischen Spielen
Die diesjährigen Olympischen Spiele wurden von einer Kampagne gegen die algerische Boxerin Imane Khelif überschattet. Dieses Ereignis verdeutlicht, wie präsent Transphobie und Sexismus in der westlichen Gesellschaft sind, kommentiert MADS-Autorin Hanin.
In den vergangenen Jahren hat sich die Akzeptanz von Transpersonen erheblich gewandelt. Das Thema gelangte in den Mainstream und wurde in Talkshows, Büchern und Filmen thematisiert. Auch wenn die Debatten häufig kontrovers waren, schien es oft, als würden Transpersonen von einer großen Mehrheit in der westlichen Welt akzeptiert. Die Olympischen Spiele zerstörten jedoch diesen hoffnungsvollen Eindruck – sie zeigen deutlich, dass unsere Gesellschaft weiterhin mit massiver Transphobie und auch mit Sexismus zu kämpfen hat. Das ist die bittere Erkenntnis, die nach den Spielen bleibt.
Der Fall Imane Khelif muss uns betroffen machen. Die Debatten um Transpersonen sind oft hart, übergriffig und empathielos. Ab welchem Alter sollte eine Hormonbehandlung erlaubt sein? Sollten sich Transmänner in Männerumkleiden umziehen dürfen, und dürfen Transpersonen Seite an Seite mit Cis-Personen an Sportarten teilnehmen? Viel Diskussionsraum, um der eigenen Menschenverachtung freien Lauf zu lassen. Doch im Fall von Imane Khelif geht es nicht darum. Imane Khelif ist eine Frau. Eine Frau, die – weil sie vermeintlich nicht in die sexistischen Stereotype einiger Menschen (meistens Männer) passt – fälschlicherweise als Transperson und Mann dargestellt wird.
Imane Khelifs sportlicher Triumph
Imane Khelif besiegte ihre italienische Gegnerin in nur 46 Sekunden. Die Italienerin brach daraufhin in Tränen aus und weigerte sich sogar, ihrer Gegnerin die Hand zu schütteln. In einem Interview nach dem kurzen Kampf sagte sie, dass der Kampf unfair gewesen sei und sie noch nie in ihrem Leben so hart getroffen worden sei. Unmittelbar danach verbreitete sich das Gerücht, Khelif sei keine gebürtige Frau. Diese Situation löste eine riesige Hasswelle gegen die Algerierin aus.
Selbst Multimilliardäre wie J.K. Rowling und Elon Musk scheuten nicht davor zurück, sich an der Kampagne zu beteiligen. Allein J.K. Rowling behauptete in 16 Beiträgen auf X, dass die italienische Boxerin gezwungen worden sei, gegen einen Mann zu kämpfen. In einem der Beiträge schrieb sie: „Die Idee, dass diejenigen, die sich beschweren, wenn ein Mann eine Frau im Namen vom Sport schlägt, dies tun, weil sie glauben Khelif wäre Trans, ist ein Witz. Wir beschweren uns, weil wir gesehen haben, wie ein Mann eine Frau schlägt.“
The idea that those objecting to a male punching a female in the name of sport are objecting because they believe Khelif to be ‘trans’ is a joke. We object because we saw a male punching a female. https://t.co/KSAM5RCl1S
— J.K. Rowling (@jk_rowling) August 2, 2024
Trump und Meloni verbreiten Fake News
Auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der für zahlreiche Falschbehauptungen bekannt ist, behauptete in einer Rede, dass Khelif ein Mann sei. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni – deren Partei als postfaschistisch beschrieben wird – verbreitete ebenfalls diese falsche Information. Es zeigt sich, wie ähnliche Ideologien und Desinformationen zusammenwirken können.
Fake News verbreiten sich schnell. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem ein Vater in einem Interview gezwungen ist, durch Bilder aus der Kindheit zu beweisen, dass seine Tochter tatsächlich eine Frau ist. Diejenigen, die stets betonen, dass das Geschlecht bei der Geburt festgelegt werde, sind nun die Ersten, die behaupten, eine olympische Goldmedaillengewinnerin könne keine Cis-Frau sein, nur weil sie nicht in ihr stereotypisches Bild passt.
Es wird deutlich, wie eng Sexismus und Transphobie miteinander verbunden sind. Auch wenn Transphobie nicht jeden direkt betrifft, wirkt sich Sexismus auf die gesamte Gesellschaft aus. Es sollte inzwischen klar sein, dass ein System, das rigide Geschlechterrollen vorschreibt und die weibliche Hälfte der Bevölkerung einschränkt, nicht nur Frauen benachteiligt. Hass ist immer ein Gift, und wenn man dieses Gift nicht in all seinen Formen bekämpft, wird es letztlich jeden treffen.
Der Hass aus dem Westen
Der queere Aktivist Matt Bernstein schrieb in einem Instagram Post: „Es hat keinen Unterschied gemacht, dass Imane eine Cis-Frau ist. Sie wurde trotzdem ein Opfer von Transphobie. Denn genau das tut Transphobie: Sie verlangt, dass jeder den Stereotypen von Mann und Frau entspricht. Echte Frauen können nicht so groß sein. Sie können nicht so kräftig schlagen. Sicher, dass das nicht einfach nur Sexismus ist?“ In dieser ganzen Situation wird außerdem vergessen, dass Algerien ein konservatives Land ist, dass sich nicht von einer Transfrau vertreten lassen würde.
Der Hass kommt aus dem Westen, aus jenen Ländern, die sich wegen ihrer angeblichen Aufgeklärtheit oft anderen Ländern überlegen fühlen. Trotz CSD, Regenbogenflaggen am Supermarkt und Lippenbekenntnissen von Politikerinnen und Politikern zeigt die bittere Wahrheit, dass es im „liberalen Westen“ nur einen Menschen braucht, der nicht den gängigen Vorstellungen entspricht, um eine Welle der Menschenfeindlichkeit auszulösen.
Es bleibt viel zu tun
Imanes Geschichte zeigt, dass Weiblichkeit nicht nur eine Eigenschaft von typisch westlich-aussehenden Frauen ist, die dem männlichen Schönheitsideal entsprechen. Imane ist weiblich, auch wenn ihre Gesichtszüge nicht denen der Models auf Instagram entsprechen und auch wenn ihr Schlag einen durchschnittlichen Mann umhauen könnte. Wenn bereits eine Cis-Frau wie Imane solchen Hass erfährt, stellt sich die Frage, wie viel wir als Gesellschaft machen müssen, um sicherzustellen, dass Menschen, die tatsächlich Trans sind, sich wohlfühlen und ihren Alltag in einer akzeptierenden Umgebung gestalten können.
Imane hat jetzt eine Goldmedaille mehr, als jeder, der versucht hat, sie bloßzustellen. Aber sie hat uns auch, auf ihre Kosten, einen Einblick in unsere Gesellschaft ermöglicht, der gezeigt hat, wie viel man für eine wirklich faire und vielfältige Gesellschaft noch tun muss.
Von Hanin Alshwikh
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