Jeder für sich: Befördern Influencer Individualismus?
Ob als Berufswunsch oder als parasoziale Beziehung – Influencer üben eine große Faszination auf junge Menschen aus. Wie werden Jugendliche von der Gesellschaft, in der sie leben, entkoppelt und welche Rollen spielen Politik und Influencer dabei? Eine Analyse.
Das Interesse an Influencern und deren Plattformen ist bei jungen Menschen ungebrochen. Die Studie „Jugend Information Medien“ (JIM) zeigt: Zwölf- bis 19-Jährige nutzen Tiktok, Youtube und Instagram nach dem Messenger-Dienst Whatsapp am häufigsten. Außerdem kann sich knapp ein Viertel vorstellten, selbst Influencer zu werden. Wie hängt das mit ihren Lebensverhältnissen zusammen?
Junge Menschen in Deutschland
Die neuesten Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) offenbaren: Rund 46 Prozent der jungen Männer und 32 Prozent der jungen Frauen betreiben mindestens einmal im Monat Rauschtrinken. Laut Kindergesundheitsbericht 2023 sind vor allem ärmere Jugendliche, in Folge von Stress, zusätzlich von erhöhtem Tabak- und Alkoholkonsum betroffen. Das Deutsche Ärzteblatt meldet einen Anstieg von Suizidversuchen und emotionalen Störungen infolge der Corona-Pandemie. Ebenso wird die Verdopplung der Wartezeiten für Therapieplätze stark kritisiert.
Die kürzlich erschienene Shell-Studie zeigt derweil die expliziten Ängste der Zwölf- bis 25-Jährigen: 81 Prozent fürchten sich vor Krieg, knapp 70 Prozent quält die Sorge um wirtschaftlichen Abstieg. Bereits jetzt lebt knapp ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland in Armut. Gerade für diese Gruppe steht laut Shell-Studie die Angst vor einer Verschlechterung der eigenen Situation im Vordergrund. Fast 90 Prozent streben daher nach mehr Sicherheit durch eigene Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Drei Viertel der Befragten wollen passend dazu auch einen hohen Lebensstandard erreichen – der Materialismus ist seit 2019 angestiegen. Zuversichtlich blickt allerdings nur noch knapp die Hälfte in die eigene Zukunft.
Was ergibt sich daraus? Jugendliche erleben Stress und Angst. Vor allem diejenigen, die in Armutsverhältnissen leben. Die psychische Gesundheit hat sich verschlechtert, der Ausbau entsprechender Hilfsangebote wird jedoch vernachlässigt. Finanzielle Absicherung ist jungen Menschen wichtiger denn je. Wenn allerdings Gesellschaft und Politik nicht mehr als Möglichkeitsraum und Sicherheitsnetz verstanden werden, zeigt sich ein Streben hin zum Individualismus und einem entsprechenden Alternativmodell – potenziell zum Leidwesen des Gemeinschaftsgefühls.
Vom Tellerwäscher zum Influencer
Die meisten gängigen Influencer vermitteln in ihren Inhalten drei zentrale Werte: einen hohen Lebensstandard, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, die wechselseitig miteinander in Verbindung stehen. Das sind dieselben Werte, die auch laut Shell-Studie für viele Jugendliche erstrebenswert sind. Aus der Diskrepanz, die sich aus der eigenen Lebenssituation, dem Wunsch nach mehr und der scheinbaren Realität der Influencer ergibt, erwächst die Faszination und die Vorbildfunktion, die sie für Jugendliche zu haben scheinen.
Viele Influencer waren selbst einmal in einer ähnlichen Situation, wie ihre jungen Fans. Sie waren schlecht bezahlte Auszubildende, Studierende mit Geldsorgen oder haben im Schichtsystem gearbeitet. Für sie alle scheint das Influencerdasein der Weg aus der Fremdbestimmung und der finanziellen Sorge gewesen zu sein – sie haben es geschafft. Geschürt wird so der alte Gedanke der Meritokratie – der Idee, dass jeder es schaffen kann, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Doch in der Realität der regulären Lohnarbeit ist dieser Grundsatz längst überholt.
Nicht nur Erfolge werden auf diese Weise jedoch individualisiert, sondern auch gesamtgesellschaftliche Probleme. Wenn Diana zur Löwen ihrer Instagram-Community als einzige Lösung für schlechte Renten die private Vorsorge empfiehlt, offenbart sie, wie radikal individualistisch sie denkt und wie sehr sie den Bezug zur Gesellschaft verloren hat. Knapp 30 Prozent der Deutschen haben laut einer Umfrage der ING keine Ersparnisse und demnach auch nicht die Möglichkeit, lohnenswert in private Vorsorge zu investieren – ihr Risiko für Altersarmut ist hoch.
Indem Probleme nicht gesamtgesellschaftlich gesehen, sondern individuell betrachtet werden, entrücken Influencer den Einzelnen zusehends von der Gesellschaft, in der er oder sie lebt. Diese kann allerdings nur gemeinschaftlich gestaltet werden.
Allein statt gemeinsam für die gute Sache?
Gesellschaftlicher Fortschritt wird im Kollektiv erkämpft. Dies zeigen eindrücklich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung oder des Civil Rights Movements in den USA. Menschen mit Nöten, Bedürfnissen und Wünschen haben sich zusammengeschlossen, gegen Unterdrückung gekämpft und für uns heute alltäglich scheinende Rechte durchgesetzt.
Doch aktuell tut die Politik zu wenig für junge Menschen. Themen, die diese aktiv betreffen, finden entweder kaum statt, oder werden im Wahlkampf instrumentalisiert. Dies hinterlässt eine Jugend mit wenig Zuversicht. Wenn die Influencer auf der anderen Seite Probleme nur individualisiert ansprechen, wird ein individualisiertes Weltbild vorgelebt. Es leitet dazu an, Missstände nicht mehr als gesamtgesellschaftlich wahrzunehmen und sich nicht mehr in entsprechenden Bewegungen zu organisieren.
Wenn demokratische, politische Akteure die Belange junger Menschen ernsthaft aufgreifen und gestalten würden, ließe sich der Trend umkehren. Politisches Interesse und die Bereitschaft zum politischen Engagement sind nämlich laut Shell-Studie angestiegen. Um diese Bereitschaft nicht rechten Kräften zu überlassen, ist die demokratische Einbindung der Jugend allerdings entscheidend.
Von Imke Laura Berg
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