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„Ich will Weinen in der Gesellschaft normalisieren“: Cry–Aktivistin Carlotta im MADS-Interview

„Ich will Weinen in der Gesellschaft normalisieren“: Cry–Aktivistin Carlotta im MADS-Interview
Foto: privat

Carlotta Brüdersdorf hat dieses Jahr den interaktiven Instagram-Account „public.cry.cluub“ gegründet. Im MADS-Interview redet sie über Aktivismus, Weinen in der Öffentlichkeit und Gründung des Accounts.


„Weinen ist mein Ventil“

Die 23-jährige Ratzeburgerin Carlotta Brüdersdorf ist selbsternannte „Heulerin“ und „unfreiwillige Aktivistin für Weinen in der Öffentlichkeit“. Ihrem interaktiven Instagram-Account „public.cry.cluub“, den sie Anfang des Jahres gegründet hat, folgen mittlerweile über 2200 Menschen. In Form von Fotos und Videos teilt die 23-Jährige gemeinsam mit anderen Club-Mitgliedern ihre Heul-Momente in der Öffentlichkeit, und erzählt die entsprechenden Geschichten in der Caption. Mit einer Portion Selbstironie setzt sich die Kulturwissenschaftsstudentin für die Enttabuisierung des Weinens ein.

Carlotta, wie kam es zu der Gründung des Public Cry Clubs?
Ich habe immer schon sehr viel geweint, auch in der Öffentlichkeit. Ein bisschen habe ich mich damit alleine gefühlt, weil ich sehr sensibel bin. Das hat mich frustriert. Über Weihnachten, als ich krank und alleine war, kam mir dann die Idee, eine Instagram-Seite aus meinem unfreiwilligen Aktivismus zu machen. Ich habe das zunächst für mich gemacht, vor allem, um das Narrativ für mich selbst zu verändern. Gerade, indem ich die Texte unter die Bilder schreibe, habe ich die Macht darüber, wie ich das rüberbringe und wie ich darüber rede. So kann ich das Weinen auch für mich selbst anders framen und ein bisschen leichter machen. Inzwischen habe ich damit auch andere Leute erreicht, die mir ihre eigenen Bilder und Geschichten schicken.

Was möchtest du mit deinem Aktivismus erreichen?
Ich will Weinen in der Gesellschaft normalisieren und entdramatisieren. Es ist gar nicht der Sinn des Accounts, zu sagen: „Es geht mir so schlecht und ich teile jetzt meine Gefühle und Emotionen.“ Sondern genau das Gegenteil: „Ey, ich bin eigentlich voll zufrieden mit meinem Leben. Ich bin happy, und das Weinen gehört genauso dazu.“

Wie ergeht es dir beim Weinen in der Öffentlichkeit?
Das ist sehr unterschiedlich. Wenn ich jetzt gerade Kopfhörer drin habe und irgendwo alleine weinend im Park sitze, dann möchte ich nicht angesprochen werden. Dann möchte ich einfach in Ruhe gelassen werden. Wenn ich aber irgendwie panisch und heulend nach meinem Zug suche, dann freue ich mich natürlich, wenn eine Person auf mich zukommt und fragt: „Kann ich dir helfen?“ Ich
finde es schön, wenn man eine gewisse Empathie und Fürsorge den anderen gegenüber mitbringt, aber immer auf eine respektvolle Art. Man sollte Menschen wahrnehmen, aber ihre Grenzen nicht überschreiten.

Was bringt dich persönlich zum Weinen?
Mich bringen sehr viele, ganz banale Sachen zum Weinen. Für mich ist das Weinen im Alltag wie ein Ventil, wenn sich Stress und Druck in mir breitmachen. Dann muss ich einmal heulen. Dann geht es besser.

Sind das immer negative Tränen oder sind das auch Freudentränen?
Es ist auf jeden Fall öfter was Negatives, aber es können auch Freudentränen sein. Ich war dieses Jahr zum Beispiel das erste Mal beim Kölner Karneval. Da gab es gleich zwei Situationen, in denen ich von dieser Lebensfreude, diesem Zusammenhalt in den Liedern und dem gemeinsamen Verkleiden und Zusammenkommen so positiv überwältigt war, dass ich wirklich richtig doll geweint habe.

Wie bist du persönlich mit dem Thema Weinen aufgewachsen?

Seit ich klein bin, habe ich immer sehr viel geweint – für meine Familie und mich gehört das einfach dazu. Vor allem meine Mama hat mich da immer sehr unterstützt. Sie hat mich nicht unter Druck gesetzt, keine Schwäche zeigen zu dürfen.

Foto: privat

Warum denkst du, ist das Weinen so tabuisiert?
Ich glaube, dass das eine ungeschriebene Regel ist: Sobald man sich anderen in der Öffentlichkeit präsentiert, sollte man gefasst sein. Es ist so ein wahnsinniger Anspruch, sich immer gut vor anderen darzustellen. Ich finde das schade, weil dadurch viel weniger von dem geteilt werden kann, was einen wirklich beschäftigt. Ich habe auch keine Lust, mich immer in meinen Emotionen für andere zu regulieren. Meine Emotionen gehören ja zu mir.

Wie hilft dir der Instagram-Account im Umgang mit dem Weinen in der Öffentlichkeit?
Es hat mir auf jeden Fall sehr geholfen, weil es am Anfang eine sehr große Unsicherheit von mir war. Ich dachte immer, dass andere das komisch und falsch finden. Ich glaube dadurch, dass ich es jetzt so extrem öffentlich gemacht habe und
in meinen Texten einen Stolz fürs Weinen rausschreie, kommt es auch innerlich immer mehr an. Es hilft mir, nicht alles so ernst zu nehmen, sondern auch so ein bisschen den Humor in der Situation rauszufiltern. Es macht mich auch selbstbewusster in meiner Identität als Heulerin.

Wer wendet sich auf Instagram an dich und teilt seine Geschichte?
Ich glaube, dass die meisten grundsätzlich in einer ähnlichen Lebensphase sind wie ich. Allgemein denke ich, dass es sehr sensible und empathische Menschen sind. Was aber auch auffällig ist, ist, dass es vor allem weiblich gelesene Personen sind und sehr viel weniger männliche Personen, die dem Account folgen und die sich dann auch trauen, mir Videos oder Geschichten zu schicken. Ich hoffe, dass sich das noch ein bisschen ändert.

Von Sandra Kopa


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Über den Autor/die Autorin:

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