
„Ein bedenklicher Zustand“: Gynäkologin kritisiert mangelnde Verhütung bei Jugendlichen

Zwischen 2014 und 2022 ist die Kondomnutzung unter sexuell aktiven Jugendlichen von 70 auf 61 Prozent bei Jungen und von 63 auf 57 Prozent bei Mädchen zurückgegangen. Das besagt ein Ende August dieses Jahres veröffentlichter Bericht der WHO. Eine Gynäkologin spricht im MADS-Interview über Verhütung und erklärt, warum die Pille besser ist als ihr Ruf.
Frau Cornelius, was passiert durch Verhütung?
Dadurch, dass das Schwangerwerden auf der evolutionsbiologischen Ebene eine so tiefe Verankerung hat, müssen wir ziemlich drastische Maßnahmen ergreifen, um das zu verhindern. Das heißt, wir müssen entweder die Spermien aufhalten, dafür sorgen, dass sie nicht dort ankommen, wo sie hinsollen, oder dafür, dass kein Ei springt.
Diese Verhütungsmittel gibt es
Hormonfreie Verhütungsmittel, die mithilfe der Barriere-Methode wirken:
– Kondom: Schützt bei richtiger Anwendung vor Geschlechtskrankheiten.
– Diaphragma: Dichtet den Muttermund ab, beugt jedoch keinen Geschlechtskrankheiten vor.
– Femidon: Sieht aus wie eine Art Schlauch, den sich die Frau in die Scheide einführen kann. Wird laut Cornelius aber selten genutzt und ist eher unpraktisch.
Hormonelle Verhütungsmethoden in der Gebärmutter
– Pille: Antibabypillen enthalten eine Kombination aus den Geschlechtshormonen Östrogen und Gestagen.
– Drei-Monats-Spritze: Dabei kommt ein hoch dosiertes Gelbkörperhormon zum Einsatz, das bei jungen Mädchen viele Nebenwirkungen hervorrufen kann.
– Implantat: Wird für drei Jahre eingesetzt und beinhaltet ein Gelbkörperhormon. Durch den hohen Östrogenmangel kann es laut Cornelius zu gesundheitlichen Folgen wie zum Beispiel Osteoporose oder Osteopenie das kommen. Es sei zwar sehr sicher, gleichzeitig könne es aber lange dauern, bis es wieder zu einem regelmäßigen Zyklus und damit zu einer Schwangerschaft kommt.
– Kupferspirale oder Kupferkette: Die Kupfer-Ionen töten die Spermien ab und führen zu einer aseptischen Entzündung an der Schleimhaut, sodass sich befruchtete Eizellen nicht einnisten können. Kupfer führt laut der Gynäkologin häufig zu mehr Blutungen und damit tendenziell zu mehr Schmerzen. Die Blutung bedeute auch eine stärkere Anämie, was zu Mangelerscheinungen führen könne.
– Hormonspirale: Bei der drei-, fünf- und achtjährigen Hormonspirale handelt es sich um eine intrauterine Verhütungsvariante. Dabei wird Levonorgestrel, ein künstliches Gelbkörperhormon, abgegeben, wodurch die Spermien nicht durchkommen. Außerdem wird dadurch die Schleimhaut am Aufbau gehindert. Die Wirkung ist überwiegend lokal, nicht systemisch, und die Spiralen haben keinen Einfluss auf den Zyklus der Eierstöcke.
Zur Verhütung gibt es verschiedene Methoden, die unterschiedlich beliebt sind. Warum hört man zum Beispiel so viel Negatives über die Hormonspirale?
Die Mirena, die achtjährige Version der Hormonspirale, enthält am meisten Hormone und hat in einigen Fällen Depressionen oder Migräne verursacht. Weil eben doch auch was systemisch wirkt, obwohl die Hauptwirkung nicht systemisch ist. Je weniger die Hormonspirale enthält, desto weniger systemische Wirkung ist zu erwarten. Häufig wird behauptet, dass die Hormonspirale total schädlich sei und schlimme Depressionen verursache, was schlicht nicht stimmt.
Was ist an der Pille gefährlich?
Die meisten Pillen enthalten das synthetische Östrogen Ethinylestradiol, also ein Estradiol, das eine Ethinyl-Gruppe hat. Die Leber braucht viele Anläufe, um diese Ethinyl-Gruppe abzuspalten. Jedes Mal, wenn die Leber das versucht, wird ein Teil der Gerinnungsfaktoren getriggert. Bei denen, die ein höheres Risiko haben, kann Thrombose ausgelöst werden. Am höchsten ist das Risiko für eine Thrombose oder eine Embolie in den ersten sechs bis zwölf Monaten der Einnahme. Es gibt auch Pillen mit natürlichem Östrogen. Das ist nicht so zyklusstabilisierend, belastet aber die Leber viel weniger. Bei den Pillen ist das Problem, dass die Studiendaten, auf die sich bezogen wird, schlicht viel zu alt sind und zum Teil tatsächlich auch von Pillen stammen, die es gar nicht mehr gibt.

Zur Person
Wibke Cornelius ist 47 Jahre alt und Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Nach ihrem Abitur 1997 hat sie in München studiert, 2004 ihr Staatsexamen gemacht und ist 2013 Fachärztin geworden. 2017 hat sie eine Frauenarztpraxis in Augsburg übernommen.
Erleben Sie in Ihrem Praxisalltag mangelnde Verhütung bei jungen Mädchen?
Ich habe viele Patientinnen, die sehr jung maximal mit Kondom verhüten oder mit „Wir passen auf“, also der Methode des unterbrochenen Geschlechtsverkehrs (Coitus interruptus). Das nennt man im Englischen „pull and pray“, also „ziehen und beten“. Ich finde es schlicht erschreckend, dass so viele meinen, es würde schon nichts passieren. Ich erlebe oft, dass es gerade junge Mädchen mit älteren Partnern sind, die sich auf diese Methode einlassen und dann eine Abtreibung durchführen. Es macht mich wütend, dass Frauen in diese Situation gebracht werden.
Welche Verhütung würden Sie jungen Mädchen und Frauen empfehlen?
Für die jungen Mädchen oder Frauen, die noch nicht bereit sind, sich eine Spirale einsetzen zu lassen, gibt es meiner Meinung nach keine Alternative zur Pille. Ideal wäre die Kombination aus Pille und Kondom. Man muss sich immer überlegen, was die Alternative ist, und das wäre eine deutlich schlechtere, deutlich weniger sichere Verhütung mit dem Risiko einer Schwangerschaft.
Seit einigen Jahren wird die Pille immer unbeliebter – finden Sie das gerechtfertigt?
Das ist ein bedenklicher Zustand, denn wir sehen in den letzten Jahren, dass die Raten von Schwangerschaftsabbrüchen steigen. Dabei ist die Pille meiner Meinung nach besser als ihr Ruf.
Was stört Sie persönlich an der öffentlichen Debatte um Verhütungsmittel?
Es ist sehr frustrierend, dass häufig alles über einen Kamm geschert wird. Neben den Risiken der Hormonspirale werden auch die der Pilleneinnahme deutlich überschätzt. Das kommt davon, dass die Pille ein Lifestyle-Präparat ist. Man nimmt die Pille nicht, um eine Erkrankung zu therapieren, sondern, um nicht schwanger zu werden. Solange ein Präparat nicht zwingend notwendig ist, muss ich mehr über die Risiken aufklären. Es ist katastrophal, dass einige wenige Frauen plötzlich eine Thrombose bekommen. Es ist aber so, dass eine Schwangerschaft und die Kindesentbindung viel gefährlicher sind. Mein Appell ist, immer wieder darüber nachdenken, wie lange man sicher verhüten möchte und ob man noch so sicher verhüten muss, wie man das jetzt gerade tut.
Warum, glauben Sie, gibt es bislang keine Pille für den Mann?
Es gibt wahrscheinlich einen Unterschied in der Intensität der Nebenwirkungen. Einer der berichteten Aspekte ist der Libidoverlust und auch das verminderte „Stehvermögen“. Wenn die Frau nicht richtig feucht wird, kann man trotzdem Sex haben, zum Beispiel durch den Gebrauch von Gleitmittel. Aber wenn der Mann nicht steht, kann man keinen Sex haben, jedenfalls nicht so, wie man sich das vorstellt. Zudem ist die Pille schon etabliert und wird mehr oder weniger klaglos genommen. Die Männer müssten viel offener sein und lernen, dass sie eine ganz große Verantwortung haben.
Warum ist Verhütung häufig wichtiger für Frauen als für Männer?
Die Frau hat den viel größeren Einschnitt im Leben. Die Frau trägt das komplette Risiko der Schwangerschaft und der Kinderaufzucht. Eine Schwangerschaft ist eine lebensgefährliche Unternehmung. Deswegen hat Verhütung für Frauen einen viel höheren Stellenwert, und sie sind dazu bereit, viel mehr Risiko einzugehen, um nicht schwanger zu werden, als die Männer.
Was müsste sich in der Debatte um Verhütung verändern?
Die Männer müssen viel mehr Verantwortung tragen. Es geht schon mal damit los, dass überhaupt nicht die Frage sein dürfte „Verhütest du?“. Solange die Frau durch eine Schwangerschaft einen Knick in der Karriere erleidet und der Mann tendenziell befördert wird, müssen die Männer viel mehr tun, und das ist ihnen oft nicht klar. Männer haben eigentlich keine andere Möglichkeit, als Kondome zu kaufen, aber sie sollten die Pille mitbezahlen oder, was auch immer dann das Beste ist. Wenn der Mann Sex haben will, muss er mit dafür Sorge tragen, dass die Frau nicht schwanger wird.
Interview: Sandra Kopa
Lies auch: