Von Tiktok in den Kleiderschrank: Welche Auswirkungen Mikrotrends haben
Heute Coastal Grandmother, morgen Skater Boy: Auf Tiktok verbreiten sich täglich neue Mikrotrends. Wie die flüchtigen Modeerscheinungen sich auf unsere Identität und die Umwelt auswirken.
Da sind Katzenvideos, wilde Challenges und Tutorials zum Herstellen von Botox-Masken aus Leinsamen – mit jedem Fingerwischen taucht eine neue Idee auf Tiktok auf. Wenn sich eine davon durchsetzt und wir etwas vom Bildschirm in die Realität tragen, spricht man von einem „Mikrotrend“. Mikrotrends sind wie kleine Wellen im Meer: Sie kommen und gehen schnell, können aber manchmal überraschend viel bewegen und so bestimmen, was gerade in ist. Das aufgeschäumte Kaffeegetränk „Dalgona Coffee“, der Stanley-Cup oder „Bed Rotting“ – all das sind Beispiele für Mikrotrends.
Die Welt der Mikrotrends auf Tiktok
Die Welt der Mikrotrends in der Mode besteht aus „cores“ und „aesthetics“. Hier begegnet man Phänomenen wie dem „Barbiecore“, einer Welt aus Pink, oder der „Clean Girl Aesthetic“ – einem Look aus zurückgebundenen Haaren, dezentem Make-up und schlichter Kleidung. Damit ist es noch nicht vorbei.
„So schnell, wie digitale Algorithmen heute sind, so schnell entstehen auch Trends – genauer gesagt Mikrotrends“, erklärt Kristin Hahn. Sie ist Professorin für Modetheorie und -wissenschaft an der Hochschule Macromedia in Berlin. Das Besondere an Mikrotrends: Was in ist, bestimmen nicht mehr nur wenige zentrale Akteure. Hahn sagt, über Tiktok und ähnliche Plattformen könne jeder zum Trendsetter werden – „die Nachbarin von nebenan, ein Reality-TV-Teilnehmer oder eine dominierende Streetstyle-Kulturszene“. Entscheidend sei lediglich die Reichweite – und diese bieten die Medien.
Dass alle Menschen Trends bestimmen können, war nicht immer so. „Früher entstanden Modetrends ausschließlich in den oberen Gesellschaftsschichten“, erklärt Hahn. „Nur sie verfügten über das Geld und die Zeit, Mode zu konsumieren und auszutragen.“ Dieser „Trickle-down-Effekt“ – das Durchsickern der Trends von oben nach unten – prägte die Modewelt für lange Zeit.
Wie Trends entstehen
Zu einem Wendepunkt kam es in den 1960er-Jahren, als die Jugendkulturen die Modelandschaft revolutionierten: Plötzlich ließen sich Modehäuser von alternativen Jugendszenen und der Straßenkultur inspirieren. Die Designerin Vivienne Westwood griff zum Beispiel die Elemente der Punk-Kultur in ihren Kollektionen auf und traf damit den Zeitgeist.
Früher wie heute gilt: Modetrends entstehen nicht aus nur einem einzigen Grund. „Die Entstehung von Trends ist ebenso facettenreich wie die Einflüsse, die sie formen“, sagt Hahn. Dazu gehören unter anderem wirtschaftliche, politische oder kulturelle Faktoren. Vielfältig sind auch die Bedürfnisse, die Trends bedienen. Jede Generation und jede Gesellschaft hat ihre eigenen Ansprüche, die den aktuellen Zeitgeist reflektieren. Solche Bedürfnisse äußern sich in der Mode. „Mit der Schnelligkeit der Zeit und vor allem der digitalen Welt mitzuhalten ist ein Bedürfnis, das mit Mikrotrends befriedigt werden kann“, sagt Hahn. Gleichzeitig nehmen sie den Druck raus, sich entscheiden zu müssen: „Heute dieser Trend, morgen der nächste – nichts ist dauerhaft, nichts ist für immer.“
Schattenseiten der Mikrotrends
Der schnelle Wechsel von Mikrotrends hat auch seine Tücken: „Es ist schwieriger, eine konstante Identität zu bilden“, warnt Hahn. Die flüchtigen Modeerscheinungen können besonders junge Menschen verunsichern, denn sie erschweren die Entwicklung eines eigenen, dauerhaften Stils.
Auch die Auswirkungen auf die Umwelt sieht die Expertin kritisch: Mikrotrends fördern eine Wegwerf-Kultur. Man kauft immer neue Trendkleidung, während ältere Produkte ungenutzt im Kleiderschrank bleiben. „Hier sind wir wieder in der Spirale der Fast Fashion mit den bekannten schädlichen Folgen“, erklärt Hahn. Dazu gehören hoher Produktionsdruck, schlechte Arbeitsbedingungen, Ausbeutung von Rohstoffen und viele umweltschädliche Abfallprodukte.
Mikrotrends nachhaltig nutzen
Kann man Mikrotrends trotzdem nachhaltig gestalten? Das geht: Für Unternehmen schlägt Hahn ein „Baukastensystem“ vor, ähnlich dem „Capsule Wardrobe“-Konzept. „Der Grundgedanke dabei ist, dass Produkte auf vorangegangene aufbauen und Kleidungsstücke wie Puzzleteile immer wieder aufeinander passend gestaltet sind.“ So können ältere Modelle weiterhin getragen und zum Beispiel durch Accessoires ergänzt werden, um aktuelle Trends aufzugreifen.
Für Konsumenten gilt: Weniger ist mehr. Statt jeden Trend mitzumachen, empfiehlt es sich, den eigenen Kleiderschrank zu durchforsten: Was habe ich bereits, das zum aktuellen Mikrotrend passt? Diese Herangehensweise schont nicht nur den Geldbeutel, sondern auch die Umwelt. „Mikrotrends mögen den Zeitgeist widerspiegeln, doch sie sind vorübergehend“, sagt Hahn. Es liegt also an uns, bewusst zu entscheiden, welche Trends wir aufgreifen und wie wir sie in unseren persönlichen Stil integrieren.
Von Luise Moormann
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