
„Sexualerziehung ist so wichtig wie Mathematik“: eine Vergewaltigte berichtet

Heute ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. MADS-Autorin Tara hat mit einer Betroffenen gesprochen – über ihre Erfahrungen und darüber, was es braucht, um Nein sagen zu können.
Triggerwarnung: Der Artikel beschreibt Erfahrungen von sexualisierter Gewalt.
Im Club, am Arbeitsplatz oder in den eigenen vier Wänden – vor Gewalt sind Frauen nirgendwo sicher. Der „Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ macht jedes Jahr am 25. November auf die Diskriminierung und Gewalt gegenüber Frauen aufmerksam und gedenkt ihren Opfern. Sarah* ist eines davon. Die junge Frau wollte gemeinsam mit einem Freund einen schönen Abend auf einer Party verbringen. Doch dann hat ein fremder Mann sie vergewaltigt. Mit MADS-Autorin Tara spricht sie über ihre Gedanken und Gefühle, teilt ihre Ratschläge mit anderen Opfern und erzählt, was sich dringend ändern muss.
Aus dem Französischen übersetzt
Was genau ist im Juli 2021 passiert?
Ich wurde auf einer Party in Lyon vergewaltigt. Zuerst hatte ich mein Handy verloren, was mich sehr beunruhigte. Mein Freund war bereits gegangen und so kam ein fremder Mann zu mir und hat gefragt, was denn los sei. Ich erklärte ihm die Situation und er hat mir angeboten, mich nach Hause zu begleiten. Auf dem Weg sollte es auch einen schönen Aussichtspunkt geben, um mich wieder zur Entspannung zu bringen. Stattdessen lockte er mich an einen abgelegenen Ort. Dort konnte mich niemand sehen oder hören, und er vergewaltigte mich.
Was ging in dem Moment in dir vor?
Im Moment des Übergriffs wusste ich nicht, was mit mir geschah. Ich hatte das Gefühl, außerhalb meines Körpers zu sein. Er hat mich beraubt und psychisch betäubt, ohne dass ich reagieren konnte. Nachdem mein Angreifer mich vergewaltigt hatte, hat er auch noch meine Handtasche gestohlen und mich an dem Ort zurückgelassen. Ich war völlig verängstigt, denn als ich wieder zu mir kam, war er nicht mehr da und mir wurde klar, was passiert war. Ohnmächtig bin ich zwar nicht geworden, aber es hat trotzdem mehrere Minuten gebraucht, bis ich realisiert habe, was passiert ist. In meinen Gedanken dauerte die Situation ewig lang an, aber später hat man mir gesagt, dass ich nur wenige Minuten weg war. Ich konnte nach der Vergewaltigung drei Wochen lang nicht mehr richtig laufen.
Was hat sich seitdem für dich verändert?
Es haben sich viele Dinge in meinem Leben verändert. Mein Verhältnis zu meinem Körper ist nicht mehr dasselbe. Manchmal fällt es mir zum Beispiel sehr schwer zu duschen. Wenn ich mich ängstlich oder traurig fühle, esse ich sehr viel oder trinke Alkohol. Ich werde zwar von einer Psychologin betreut, aber es gibt viele Dinge, die ich neu lernen muss. Vor allem muss ich aber lernen, damit zu leben.
Hat sich deine Sicht auf die Situation im Nachhinein verändert?
Meine Sicht auf die Situation hat sich nie geändert. Außer, dass ich gelernt habe, mir nicht mehr die Schuld zu geben. Denn es ist nicht meine Schuld, dass diese Person meinen Angstzustand ausgenutzt hat, um mich zu missbrauchen. Aber es hat lange gedauert, bis ich mir selbst vergeben und aufhören konnte, mich schuldig zu fühlen.
Wie hat dein Umfeld reagiert?
Ich hatte wirklich Glück, weil meine Eltern und Freunde mich direkt unterstützt haben. Deswegen konnte ich sehr schnell darüber sprechen, was mir passiert ist. Für manche Menschen ist das kompliziert, weil sie Angst haben, dass man ihnen nicht glaubt. Und das ist ganz normal. Ich werde von vielen Menschen in meinem Umfeld unterstützt. Auch wenn manche Freunde manchmal nicht verstehen, warum bestimmte Verhaltensweisen nicht so schnell wiederkommen, wie sie es gerne hätten.
Was hat sich für dich nach der Vergewaltigung verändert?
Manchmal ist es unmöglich mich zu duschen. Mein nackter Körper widert mich an und der Kontakt mit dem Wasser auf meiner Haut schmerzt. Wenn es dunkel wird, kann ich nicht mehr allein spazieren gehen, weil ich zu große Angst habe. Gerade jetzt in meinem neuen Studium merke ich, dass sich die Vergewaltigung stark auf mein Verhalten ausgewirkt hat. Den ganzen Tag Menschen in der Uni zu sehen und zu lächeln, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, kostet mich viel Energie. Eigentlich gehe ich auch gerne feiern, aber nun fällt es mir viel schwerer auszugehen. Es ist stark tagesabhängig, aber ich habe zum Glück Freunde, mit denen ich viel lachen kann. Trotzdem sieht mich nie jemand weinen oder ängstlich sein. Mein Leiden ist zu etwas Intimen geworden.
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Welchen Ratschlag kannst du anderen Opfern geben?
Wagt es, zu sprechen. Wenn ihr euch nicht eurem Umfeld anvertrauen könnt oder wollt, gibt es auch andere Möglichkeiten. Viele feministische Organisationen hören euch zu und begleiten euch in dieser schweren Zeit. Allein das ist schon ein riesiger erster Schritt und vielleicht könnt ihr danach auch mit Menschen sprechen, die euch näherstehen. Und ganz wichtig: Ihr seid nicht schuld an dem, was passiert ist – unabhängig davon, in welchem Kontext der Angriff stattgefunden hat. Was die Einleitung eines Gerichtsverfahrens betrifft, liegt diese Entscheidung bei jedem selbst. Es sind lange, schmerzhafte und oft erfolglose Verfahren. Man muss sich also sicher sein, dass man gut betreut wird, wenn man sich auf diesen Weg begibt.
Was wird bei Gesprächen über Vergewaltigungen oft außer Acht gelassen?
Es sind nicht nur Frauen, die vergewaltigt werden. Ich weiß, dass es für andere Geschlechter manchmal noch schwieriger ist, darüber zu sprechen. Manche können sich nämlich leider immer noch nicht vorstellen, dass auch sie Opfer eines Übergriffs sein können. Ihnen möchte ich auch Mut machen, darüber zu sprechen. Personen, die Opfer von Gewalt in ihrem Umfeld haben sollten ihnen glauben, zuhören und so weit es geht unterstützen.
Was sollte deiner Meinung nach getan werden, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen?
Man sollte mit Kindern von klein auf über Zustimmung sprechen. Sie sollten lernen, „Nein“ sagen zu können. Aber sie sollten auch lernen, wie man ein Nein empfängt. Jemand, der Nein zu uns sagt, ist nämlich nicht automatisch jemand, der uns weniger liebt, der uns provoziert oder der uns verletzen will. Sexualerziehung und emotionale Erziehung sind genauso wichtig wie Mathematik. Ein guter Schüler sein zu können ist gut, aber wir müssen auch lernen, menschlich zu sein. Und vor allem sollten wir lernen, uns selbst zu respektieren.
*Sarah ist ein ausgedachter Name, da die Betroffene anonym bleiben möchte.
Du hast selbst Gewalt erfahren? Eine erste Anlaufstelle kann das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ sein. Sie ist telefonisch erreichbar unter 08000 116 016. Zudem gibt es eine Online-Beratung. Das Angebot ist das gesamte Jahr über rund um die Uhr verfügbar. Beratungen gibt es in 18 verschiedenen Sprachen.
Von Tara Yakar
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