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Psychiater im Interview: Wieso manche Menschen Angst vor der Rückkehr zur Normalität haben

Psychiater im Interview: Wieso manche Menschen Angst vor der Rückkehr zur Normalität haben
Foto: Unsplash/ Joice Kelly

Die Corona-Einschränkungen werden weniger, das normale Leben beginnt langsam wieder. Für manche Menschen ist das eine Herausforderung: Sie leiden an der sogenannten Re-Entry-Anxiety – der Angst vor eigentlich normalen Situationen. Kinder- und Jugendpsychiater Burkhard Neuhaus erklärt das Phänomen, unter dem vor allem Schülerinnen und Schüler leiden.


Herr Dr. Neuhaus, manche Menschen haben Angst, nach eineinhalb Jahren in das normale Leben zurückzukehren. Ist das normal?

Ja. Denn jede psychische Auffälligkeit ist eigentlich die Verstärkung von etwas Normalem. Jeder von uns kennt wahrscheinlich Prüfungsängste. Und wenn ich lange Zeit nicht geprüft worden bin, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ich dann größere Prüfungsangst habe. Nicht bei jedem, aber bei vielen. Diese Angst zeigt sich vor allem im schulischen Alltag.

Inwiefern?

Wir haben jetzt jede Menge Schüler und Schülerinnen, die aus ganz unterschiedlichen Situationen kommen. Manche haben in den Abschlussjahrgängen einen kontinuierlichen Unterricht gehabt, die meisten aber nicht. Manche haben sehr intensive Homeschooling-Erfahrungen gemacht, andere nicht. Jemand, der eher wenig Ängste hat, aufgeschlossener und mutiger durchs Leben geht, hat auch weniger Probleme, wenn die Schule und soziale Situationen wieder anfangen. Andere, die eher ängstlicher veranlagt sind, werden höhere Angst vor dem eigentlich Bekannten und lange Geübten haben, weil es jetzt eben nicht mehr lange geübt und bekannt ist. Für sie kann es sich wie eine neue Situation anfühlen.

Dr. Burkhard Neuhaus ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Kinderkrankenhaus Auf der Bult in Hannover.
Foto: Kinder und Jugendkrankenhaus Auf der Bult

Welche Folgen hat das?

Wir stellen hier in der Kinder- und Jugendpsychiatrie fest, dass wir mehr Schüler und Schülerinnen mit Schulangst oder Schulverweigerung haben. Da gibt es unterschiedliche Gründe für, vor allem aber die Angst vor der sozialen Situation in der Klasse: Wie komme ich bei den anderen an? Gucken die mich komisch an? Sagt jemand etwas Gemeines? Das andere ist die Angst, in der Schule zu versagen, also Leistungsängste. Es ist sehr unterschiedlich, wie sich das bei einzelnen Personen auswirkt und auch schwer vorhersehbar.

Lies auch: Die Angst vor dem sozialen Leben nach Corona – Das ist Re-Entry-Anxiety

Was können Betroffene dagegen tun – in der Schule, aber auch im Alltag?  

Das hängt vom Schweregrad ab. Grundsätzlich gilt: versuchen, versuchen, versuchen. Und dazu jede Unterstützung suchen, die es gibt. Natürlich gibt es auch uns Fachleute, aber bevor wir gefragt werden, ist der eigene Versuch immer das Wertvollste: Hab ich Freunde oder Familienangehörige, die mich unterstützen können und mit denen ich reden kann? Gibt es irgendetwas, was mich besonders motiviert? Gerade im Jugendalter kennt es eigentlich jeder, dass er unzufrieden mit sich ist. Und das ist auch gut so. Denn das führt dazu, dass wir uns infrage stellen und alles mögliche ausprobieren, uns verändern und entwickeln. Ängste und Sorgen, die da auftreten, sind normal und ein Stück weit gut für unsere Entwicklung. Die Frage ist immer: Hindert es sich mich irgendwann im Alltag? Die täglichen Aufgaben, wie morgens aufstehen, zur Schule gehen und idealerweise Freunde treffen oder Sport machen, das ist etwas, das eigentlich immer funktionieren muss. Denn das die Grundlage der sozialen Teilhabe.

Was raten Sie Familienangehörigen oder Freunden von Menschen, die unter sozialer Angst leiden?

Auf die Stärken schauen und diese auch mitteilen. Zudem sollte man versuchen, den Betroffenen zu helfen, Ängste und eventuell auch Abwertungen richtig einzuordnen. Ganz wichtig ist es auch, die Person immer wieder zu bestärken, die Dinge zu probieren. Nicht jeder, der Angst hat, braucht deswegen gleich einen Facharzt, sondern im Grunde erst einmal ein Umfeld, das ihn unterstützt, ihm hilft und ihn ermutigt. Wenn aber zum Beispiel Schulvermeidung länger als zwei Wochen andauert, dann sollte man zügig weitere Unterstützung suchen.

Ihr fühlt euch durch die Pandemie psychisch belastet? Hier haben wir Kontaktdaten von Organisationen gesammelt, bei denen ihr Hilfe erhaltet.


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Über den Autor/die Autorin:

Ella Rinke

Ella (23) studiert Medien und Kommunikation. Neben Kunst interessiert sie sich für Musik, die sie bei MADS rezensiert. Dazu schreibt sie über alles, was gerade so passiert.

1 Kommentar

  1. Walter Neuschitzer

    Ich finde es gut, dass ein Psychiater nicht einfach Psychopharmaka propagiert, sondern die notwendige Unterstützung durch das Umfeld betont. Geholfen wird ja nur durch nachhaltige Lösungen und nicht durch pures Zudecken, das außerdem Nebenwirkungen und manchmal auch Langzeitschäden mit sich bringt.

    Antworten

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