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„Ich dachte, ich bin dumm“: So ist es, mit der Rechenschwäche Dyskalkulie zu leben

„Ich dachte, ich bin dumm“: So ist es, mit der Rechenschwäche Dyskalkulie zu leben
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Einfache Rechenaufgaben sind für Christina riesige Herausforderungen, sie hat kein Zeitgefühl und kann Distanzen schlecht einschätzen: Die 24-Jährige hat die Rechenschwäche Dyskalkulie. MADS hat sie erzählt, wie es ist, im Unterricht verspottet zu werden.


Wenn Christina im Matheunterricht mal wieder zum Vorrechnen an die Tafel musste, wussten ihr Lehrer und die Mitschüler: Was auch immer sie ausrechnet – das Ergebnis würde falsch werden. Dass sich vor ihren Augen die Ziffern verdrehen, wie etwa 6 und 9, das wusste nur Christina. Erst Jahre nach ihrem Schulabschluss, sie war schon 21, fand sie heraus, woran das lag: Christina hat die Rechenschwäche Dyskalkulie. 

Rund 6 Prozent aller Schüler haben mit dieser Rechenschwäche zu kämpfen. Betroffene verstehen Zahlen als Symbole und nicht als Angaben von Mengen.

Fächer wie Mathe, Erdkunde und Bio wurden für Christina aus Leipzig zum schmachvollen Spießrutenlauf, erst auf dem Gymnasium, später auf der Realschule. „Ich habe Vermeidungsstrategien entwickelt“, sagt die heute 24-Jährige. „Ich bin aus der Stunde gegangen, habe gesagt, dass mir schlecht ist. Oder ich habe Späße darüber gemacht, dass ich es nicht konnte. So war es jede Stunde.“ 

Erst mit Anfang 20 wurde bei Christina Dyskalkulie festgestellt. Foto: Stefan Feldt/privat

Wie Dyskalkulie das Selbstwertgefühl einschränkt

Statt der Ergebnisse malte sie Zeichnungen an die Tafel. „Von den Mitschülern kamen Sprüche wie ,typisch Mädchen’.“ Und auch vermeintliche Tipps vom Lehrer wie „Guck doch noch mal drüber, der Fehler ist doch ganz eindeutig“ halfen nicht“, sagt sie. Nichts ist eindeutig, wenn Zahlen im Kopf keinen Sinn ergeben. Dass Christina unter Dyskalkulie leidet und nicht einfach nur schlecht in Mathe ist, auf diese Idee kamen weder ihre Eltern noch die Lehrer.

Dabei war Christina alles andere als eine schlechte Schülern. In anderen Fächern hatte sie viele Einsen und Zweien auf dem Zeugnis, neben der Schule trieb sie Leistungssport. „Doch all das hat nie gezählt. Ich habe gedacht: Ich bin einfach dumm.“

Annette Höinghaus arbeitet beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL). Sie weiß, wie schwer die Rechenschwäche den Betroffenen das Leben macht. „Wir hatten letztens den Fall einer 13-Jährigen, die sich im Unterricht auf den Tisch geworfen und geschrien hat, dass sie es nicht mehr aushält“, sagt sie.

Dabei gibt es Möglichkeiten, gegen Dyskalkulie vorzugehen, wenn sie früh diagnostiziert wird. „Eine Therapie kann helfen, weil Mathematik logisch ist. Man kann über ein bis zwei Jahre ein besseres Zahlenverständnis herstellen, das sich dann auch festsetzt“, sagt Höinghaus. Das Problem: An den meisten Schulen fehlen Förderlehrer. Und obwohl die Rechenschwäche offiziell als Krankheit eingestuft ist, müssen Eltern die Therapie manchmal auch aus eigener Tasche zahlen.

Rechenschwäche beeinträchtig auch das Zeitgefühl

Dyskalkulie zeigt sich bereits im Kindergarten oder in der Grundschule: Die Kinder können Mengen, Distanzen oder Gewichte nicht einschätzen, ihnen fehlt das Zeitgefühl und sie haben Probleme, die Uhrzeiten zu lernen. In Mathe verstehen sie die einzelnen Rechenarten nicht und zählen mit den Fingern. Ob sie es mit der Zahl 1000 oder mit einer Million zu tun haben, können sie nicht erfassen. Das Einmaleins lernen sie auswendig, weil sie mit den Rechenaufgaben nicht zurechtkommen. „Die Schüler sitzen im Unterricht und haben keine Ahnung, was los ist“, sagt Höinghaus. 

Wie hoch die Dunkelziffer der Menschen mit Rechenschwäche ist, die sich trotzdem durch die Schule kämpfen, ist unklar. Die Kinder werden oft für nicht schulbar gehalten, oder es wird mangelnde Intelligenz vermutet. 

Ich habe Leuten von der Diagnose erzählt. Die sagten dann: „Ich bin doch auch schlecht in Mathe.“ Solche Aussagen ärgern mich.


Christina,
24-jährige Leipzigerin mit 
Rechenschwäche

Christina musste wegen ihrer Dyskalkulie die sechste Klasse wiederholen. In der Achten sollte sie erneut sitzen bleiben, doch sie entschied sich, auf die Realschule zu wechseln. Mit den abstrakteren Rechenarten kam sie besser zurecht: In ihrer Abschlussprüfung schaffte sie eine Drei. So geht es nicht wenigen Schülern mit Rechenschwäche: Mathematische Formeln geben Orientierung, außerdem machen Taschenrechner das eigene Grübeln überflüssig. 

„Ich habe so hart gearbeitet“

Inzwischen jobbt Christina bei einer Fastfoodkette in Leipzig. Die Rechenschwäche hat bis heute Auswirkungen auf ihren Alltag: Wenn sie sich verabredet oder Termine einhalten muss, geht sie auf Nummer sicher und kommt meist viel zu früh, erzählt sie. Im Supermarkt zahlt sie nie bar, weil es ihr schwerfällt, die Summen im Kopf zu überschlagen. „Letztens wollte ich mit der Straßenbahn nach Hause fahren. Da war die Anzeige der Bahnlinien kaputt, und ich konnte mich nicht an der farbigen Markierung orientieren. Also bin ich zu Fuß nach Hause gelaufen. Ich habe meine Strategien gefunden, damit umzugehen.“ 

Erst als Christina Kontakt mit anderen Betroffenen hatte, kam sie auf die Idee, sich auf Dyskalkulie testen zu lassen. „Als ich die Diagnose hatte, war ich total erleichtert“, sagt sie. Auf Verständnis ist trotzdem nicht immer gestoßen: „Ich habe Leuten von der Diagnose erzählt. Die sagten: ,Ich bin doch auch schlecht in Mathe.’“ Dass andere Christinas Krankheit relativieren ärgert sie: „Die waren einfach nur faul oder hatten keine Lust. Ich habe so viele Jahr so hart gearbeitet.“ 

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